Schankwirtschaft
Hamburg
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Ein Bummel in der frühen Abenddämmerung des 14. November 2015 durch St. Pauli. Grellbunte Leuchtreklamen spiegeln sich in den Pfützen, eine nicht enden wollende Kolonne von Autos und Reisebussen schiebt sich über die Reeperbahn, innen drücken sich die Gesichter gegen die Scheiben, wollen nichts verpassen. Die allerletzten Nachtschwärmer von gestern torkeln über den Bürgersteig, nachhause, oder irgendwo hin. Einer übergibt sich mit Wonne in einen Mülleimer.

Vor mir steht ein zwei Meter großer Penis. Ein armer Tropf, kurz vor seiner Hochzeit. Von seinen „Freunden“ in dieses unsäglich lächerliche Kostüm gezwängt, wankt diese riesige Dauererektion von einer Kneipe in die nächste und hat nur zwei Aufgaben zu erfüllen: Sich so lächerlich wie möglich zu machen, und den anderen Teilnehmern an seinem Junggesellenabschied alle Getränke zu bezahlen.

Die ersten Nutten stöckeln vorbei. „So ein Gardemaß wie Dich will ich mal zwischen meine Schenkel kriegen!“ ruft eine dem Plastikpenis zu, und der Noch-Junggeselle duckt sich noch tiefer in seine eichelförmige Kapuze.

Ein elegant gekleidetes, grundsolides Pärchen läuft vor dem Herzblut vorbei, wagt keinen Blick nach links, ignoriert den Reinschnacker völlig. Sind wohl auf dem Weg zum Musical, und noch zu früh dran.

Stunden-, tage-, wochenlang könnte man diese bunt gemischte, leicht verruchte Atmosphäre genießen, ohne dass es langweilig werden müsste. So viele Menschen unterschiedlichen Charakters, so viele Originale, und die, die sich dafür halten.

Aber ich bekomme Durst auf ein ordentliches Bier. Hier, direkt an der Reeperbahn, heißt es, Astra rulez. Ich habe aber keinen Appetit auf Fabrikbier, auch wenn es noch so Kult ist, und so wende ich meine Schritte in Richtung Norden. Wenige Meter nur, bereits in der ersten Parallelstraße zur Reeperbahn werde ich fündig: Die Schankwirtschaft.

Erst vor wenigen Monaten hat diese kleine Craft-Bier-Bar aufgemacht, und nach all dem farbenfrohen Trubel auf der Reeperbahn kommt sie recht ruhig und gediegen daher. Fast schon gutbürgerlich.

MiniaturSie ist im Tiefgeschoss gelegen, ich gehe eine Handvoll Stufen hinunter, durch den dicken schwarzen Vorhang, und stehe mitten im Schankraum. Rohe Ziegelwände, kleine, quadratische Tische, bequeme Stühle. In einer Ecke eine Sofa-Sitzgruppe mit niedrigem Couchtisch, und die Fensterbänke sind mit Polstern ebenfalls zum Sitzen hergerichtet. Eine große Spiegelwand am Kopfende macht den Raum größer als er in Wirklichkeit ist. Das Licht ist heruntergedimmt, auf den Tischen flackern Kerzen. Urgemütlich, und heute, im grässlichen Novemberregen und -wind, wunderbar einladend.

Rechter Hand die Theke. Zwölf Zapfhähne, an der Wand dahinter die obligatorische Kreidetafel. Rund die Hälfte aller Hähne ist von Brewers And Union belegt – gestern war Tap Take-over, und die Fässer sind noch nicht leer.

Der freundliche, junge Barmann nimmt sich Zeit, lässt mich ein paar Biere verkosten, berät mich bezüglich der Stile. Sehr ordentlich, sehr professionell. Angesichts der Professionalität, der Gemütlichkeit, der Ordnung und Sauberkeit drängt sich mir schon wieder der Begriff gutbürgerlich auf.

Ich wähle mir mein erstes Bier, das SHIPA Saphir von Oliver Wesselohs Kehrwieder Brauerei, und setze mich an einen der Tische. Als kleinen Appetizer gibt es Erdnüsse, aber keine direkt so aus der Tüte, sondern mit Lemongrass und rotem Pfeffer sowie weiteren orientalischen Gewürzen aufgepeppte Erdnüsse. Eine tolle Kombination zum Bier. Nicht ganz uneigennützig, denn sie machen einen gewaltigen Durst. Das Bier schmeckt prima, der Saphirhopfen dominiert mit seinen blumig verspielten Aromen das Bier. Eine kräftige, aber nicht zu aggressive Bittere – ein sehr schönes Bier mit deutlich spürbarer alkoholischer Wärme. Das schmale Probierglas ist mir ein wenig zu zierlich, könnte sich ein wenig weiter wölben, um die Hopfenaromen noch besser erfassen zu können, und die kleinen Punkte in seinem Dekor sehen wie aufsteigende Kohlensäureperlen aus, machen es schwierig, den optischen Eindruck des Biers zu beurteilen.

Ein zweites Bier gönne ich mir noch, bevor ich – wie versprochen – wieder nachhause eile, und zwar das Brrgrr Pale Ale von Brewers And Union. Gar nicht mal so kräftig im Alkohol, etwas fruchtig, aber auch etwas holzig, kräuterig, und sehr hoch vergoren, sehr trocken. Interessant. Auch hier hätte ich mir ein etwas weiteres Kelchglas gewünscht…

Ich sehe mich noch einmal um. Eine Oase der Ruhe im chaotisch-laut-bunt-orgiastischen St. Pauli. Feines Bier, sehr angenehme Atmosphäre. Hier muss ich unbedingt noch einmal wieder hin!

Nachtrag 5. Juli 2016: Hochsommer? Nee! Kalter Regen. Kein Spaziergang an der Alster also, sondern eine schnelle Einkehr in der Schankwirtschaft. Und eine Bestätigung des ersten Eindrucks: Ruhig, gemütlich, leckere Biere, guter Service. Ach, ganz einfach schön!

Die Schankwirtschaft ist täglich ab 17:00 Uhr bis 0:00 Uhr geöffnet, freitags und sonnabends bis 02:00 Uhr. Sonntags und montags ist Ruhetag. Zu erreichen ist sie am besten mit der U-Bahn; Haltestelle St.Pauli (Linie U3), und dann etwa fünf Minuten zu Fuß.

Nachtrag 8. November 2016: Ich zitiere aus der Facebook-Seite der Schankwirtschaft von heute Mittag: „Liebe Freunde der Schankwirtschaft, nach 1 ½ wundervollen Jahren in der Schankwirtschaft übergeben wir unsere geliebte Lokalität an diesem Wochenende zum 14. November in die Hände eines neuen Pächters. Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen aber wir möchten uns wieder verstärkt auf unsere bestehenden Projekte konzentrieren. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Gästen, Fans und Personal für diese großartige Zeit! Diesen Samstag öffnen wir zum letzten Mal die Zapfhähne und feiern mit Euch gemeinsam unseren Abschied. Kommt zahlreich! Max, Katherina, Ronald, Benjamin und Jeremy.“ Wie immer es mit diesem Lokal jetzt auch weitergeht… Schade!

Am 12. November 2016 findet die große Abschiedsfeier statt.

Und ich schließe mich den Facebook-Kommentaren an: „Och, nee!“

Bilder

Schankwirtschaft
Detlev Bremer Straße 43
20 359 Hamburg
Hamburg
Deutschland

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