Brüssel ist voller Überraschungen. Immer wieder. Da denkt man, man sei nun schon gefühlte hundert Mal den Grasmarkt entlanggelaufen, habe alle Geschäfte, Touristenfallen und Restaurants rund um den Grote Markt abgeklappert und in jede, wirklich jede Bar die Nase schon einmal hineingesteckt.
Und dann fällt irgendwann doch wieder etwas Neues auf. Ein neues Schild, zum Beispiel: L’Imaige Nostre-Dame.
Nein, neu ist das Schild ganz und gar nicht. Es ist eher alt. Uralt, vielleicht sogar. Aber doch neu in dem Sinne, dass es mir vorher nie aufgefallen ist. Estaminet steht noch darauf, Schänke. Es hängt über einem kleinen Steinbogen, in den der Schriftzug ebenfalls eingraviert ist, und dahinter führt ein enger Gang irgendwohin ins Halbdunkel.
Meine Neugier ist geweckt. Ich gehe durch den Gang und erreiche irgendwann einen winzigen Innenhof. Hohe Häuserwände links, hohe Häuserwände rechts. Ein winziges Fleckchen dazwischen, wo vermutlich nur im Hochsommer um die Mittagszeit ab und an einmal ein Sonnenstrahl hinkommt.
Die Ziegelwände waren bestimmt irgendwann einmal weiß gekalkt, jetzt sind sie grau, und bunte Emailleschilder mit belgischer Bierwerbung machen deutlich: Hier bin ich richtig!
An zwei winzigen Tischchen sitzen ein paar junge Leute, die Biergläser vor sich, und genießen einen der letzten lauwarmen Abende dieses Sommers. Hinter ihnen leuchtet es goldgelb durch dunkelgrüne Fenstergitter – die Bar lockt. Ich gehe durch die niedrige Tür und stelle fest: Drinnen ist es auch nicht viel größer. Ebenfalls nur ein paar ganz kleine Tische und an der Bar vielleicht noch eine Handvoll Barhocker.
Aber es ist urgemütlich. Die Einrichtung scheint uralt. Die Jahre und Jahrzehnte haben ihre Spuren hinterlassen. Schiefe und krumme Balken an der Decke, verformt unter der Last der oberen Stockwerke, die sie seit hunderten von Jahren tragen müssen. Die Wände wirken hingegen halbwegs gerade; vielleicht ist es aber auch nur der Putz, der sorgfältig aufgetragen wurde und nun verbirgt, dass auch dort krummbucklige Holzbalken das Korsett des alten Hauses bilden.
Ich nehme an der Theke Platz, bestelle bei dem jungen Mann an der Bar eine kleine Bierprobe. Für zehn Euro bekomme ich vier kleine Gläser mit Fassbier, darf aus den neun Sorten, die am Hahn sind, frei wählen. „Den Käse, der eigentlich zu der Bierprobe dazugehört, habe ich aber leider nicht mehr, es tut mir leid“, entschuldigt sich der Barmann verlegen. „Willst Du die vier Gläser trotzdem?“
Ja, na klar, und zur Not schmeckt das belgische Bier auch ohne Käse, denke ich mir, und während der Barmann beginnt, die Biere zu zapfen, sehe ich mich noch einmal um. Alte Fotos hängen an den Wänden, Schnitzereien, Bierwerbung. Eine schwarze Kreidetafel steht auf einem Bierkasten der Westvleteren-Brauerei, aber nicht, um, wie in den Hipsterbars, die Bierliste zu präsentieren, sondern um Ergebnisse vom Kartenspiel zu notieren oder vielleicht anzuschreiben, wer an welchem Tisch nun schon wie viele Biere getrunken hat.
Leiser, relaxter Jazz läuft im Hintergrund, das Saxophon klagt gelegentlich auf, aber sonst hört man nur die Stimmen des bunt gemischten Publikums und ab und an ein Gläserklirren.
Von draußen zieht ein süßlicher Duft bis an die Theke. Ich schnuppere, und der Barmann grinst: „So richtig legal ist das nicht, aber ernsthaft verfolgt wird es eben auch nicht“, sagt er. „Aber es riecht viel besser als Tabak – ich mag es!“, fügt er noch hinzu und stellt mir meine vier Biere hin. „Für das Tripel habe ich leider kein passendes Glas.“
In Belgien ist es gute Sitte, dass in den Biercafés zu jedem Bier die passenden Gläser benutzt werden: Zu jeder Biermarke gibt es eine spezielle Glasform, und natürlich muss das Glas auch mit dem Logo der Brauerei und des Biers bedruckt sein. Da man natürlich auch in Belgien große und kleine Biere bestellen kann, und so jedes Glas auch noch in unterschiedlichen Größen vorhanden sein muss, sieht es in manchen Bars hinter der Theke eher wie in einem Bierglasmuseum aus, als wie in einer normalen Kneipe – fast schon ist es ehrenrührig, den Offenbarungseid abgeben zu müssen: „Ich habe leider kein passendes Glas!“
Aber es sieht auch so schon recht abwechslungsreich aus. Vor mir stehen ein Malheur Blonde, ein Tripel Karmeliet (im Malheur-Glas), ein Pauwel Kwak und ein Bourgogne des Flandres. Vier verschiedene Biere. Jedes für sich exzellent, aber auch jedes sehr individuell. Das Malheur eher herb, etwas phenolisch; das fast gleich aussehende Tripel estriger und fruchtiger. Das Kwak karamellig, malzig und gleichzeitig herb; und das Bourgogne weinig, etwas holzig, süßsauer und sehr komplex. Bei jedem dieser Biere könnte ich den ganzen Abend sitzen bleiben, in winzigen Schlucken genießen, stundenlang. Herrlich. Die Gäste könnte ich beobachten, ebenfalls stundenlang, ohne mich zu langweilen.
Fast alle, die hier sitzen oder stehen, scheinen sich untereinander zu kennen. Kaum ein Tourist oder Zufallsgast findet den Weg hierher. Alt und jung, arm und reich, hier findet man zueinander. Ein kurzer Gruß, ein Küsschen links und rechts, ein Wink an die Bar, an der der junge Mann meistens schon weiß, was er wem einschenken soll. Aber ich fühle mich nicht fremd oder argwöhnisch beäugt, sondern rasch Teil des Ganzen.
Neugierig frage ich den Barmann nach der Geschichte der Bar, wie lange es sie denn schon gebe, und erfahre Erstaunliches. Seit 1785 würde die Bar bereits offiziell existieren, weiß er zu berichten. Vermutlich habe man aber zuvor schon ein Estaminet, einen Ausschank betrieben, aber es sei wohl 1785 gewesen, als die Steuer diesem Betrieb auf die Schliche gekommen sei und aus dem Privatausschank eine offizielle Kneipe geworden sei. Von Anfang an sei es ein beliebter Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler gewesen, und bis heute würde donnerstags, freitags und sonnabends hier Livemusik gespielt. „Livemusik?“ Ich runzle zweifelnd die Stirn. „Nun ja, wenn es nicht nur ein einzelner Künstler ist, sondern eine ganze Band, die dann auch noch ein Schlagzeug aufbaut, dann wird es schon ein bisschen eng“, heißt es, „dann muss man ein wenig zusammenrücken.“
Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie voll es hier dann sein wird. Was für ein Kampf es wird, sich bis zur Bar durchzudrängeln, um sich ein frisches Bier zu holen. Oder gar auf die Toilette zu müssen…
Aber nicht nur Musiker seien regelmäßig hier, erzählt er weiter. Auch der bekannte Comic-Zeichner André Franquin habe seinen berühmten, trotteligen Büroboten Gaston hier erfunden und dessen Erlebnisse hier erstmals skizziert, bevor er dann daheim die Zeichnungen in Reinform fertigte. Sechzig Jahre sei das mittlerweile her, fast auf den Tag genau, und zu schade sei es, dass Franquin mittlerweile auch schon wieder seit zwanzig Jahren tot sei.
Vor meinem inneren Auge sehe ich den Künstler an einem der niedrigen Tische sitzen, gedankenverloren auf dem Papier herum skribbelnd, oder im Gespräch seine Ideen entwickelnd. Natürlich bei Bier und Zigarette, denn damals gehörte eine Zigarette einfach dazu. Auch Gaston hatte ja bei all seinen Abenteuern immer eine Selbstgedrehte im Mundwinkel.
Wer weiß, vielleicht ist der coole, etwas abgerissene Typ mit der schwarzen Ledermütze auch Künstler, grübelt an einem Konzept für seine Karriere und kommt in ein paar Jahren groß raus. Oder die grell geschminkte Schönheit einen Tisch weiter, deren dickes Make-up es unmöglich macht, ihr Alter auch nur zu schätzen: Wird sie der Star des Jahres 2019?
Ich muss grinsen. Es gefällt mir hier. Die warme, einladende Atmosphäre. Die ruhige Art des Personals. Die Freundlichkeit des Publikums über alle Unterschiede hinweg. Die liebenswerten kleinen Unzulänglichkeiten. Die dezente Musik. Die teils merkwürdige Deko. Die versteckte Lage im Hinterhof. Der Cannabis-Duft von draußen. Die goldgelb leuchtenden Lampen. Die alten Bilder an der Wand. Und das gute Bier. Das richtig gute, sauleckere Bier!
Das Estaminet L’Imaige Nostre-Dame ist täglich ab 16:00 Uhr bis tief in die Nacht geöffnet; montags ist Ruhetag. Zu erreichen ist es mit einem kleinen Spaziergang vom Grote Markt in den Grasmarkt. Dort gilt es, das alte Wirtshausschild zu finden und dann mutig durch den schmalen, dunklen Gang über die schiefen Platten zu gehen, bis man irgendwann ganz hinten vom warmen Licht der Bar begrüßt wird.
L’Imaige Nostre-Dame
Rue du Marché aux Herbes 8
1000 Bruxelles
Belgien
Hinterlasse jetzt einen Kommentar