Dem Bierreisenden läuft ja schnell ein Schauer über den Rücken, wenn er erfährt, dass er in der Nähe eines internationalen Flughafens eine Nacht verbringen soll. Grausame Bilder von Kettenhotels und beschlipsten (oder manchmal auch zu erstaunlich früher Stunde beschwipsten) McKinsey-Klonen tauchen vor dem geistigen Auge auf. Geschäftsleute, die ihre Ausweise und Zugangsmarken (wichtig, wichtig!) um den Hals tragen, auch beim Abendessen im Hotel. Seelenlose Restaurants, oft pseudo-international angehaucht und so austauschbar, dass man nach spätestens einer halben Stunde gar nicht mehr weiß, in welcher Stadt man eigentlich ist. Allen wohl und niemand weh, bis zur Aufgabe der eigenen Identität. Und im Ausschank Heineken. Diesem Motto folgend. So wenig Eigengeschmack, dass sich niemand mehr an etwas stören kann…
Puh!
Aber in Keflavík habe ich am 26. Mai 2015 Glück gehabt.
Mit der Kombination Bar, Restaurant, Café unter dem Namen Ráin habe ich ein Ziel für den Abend gefunden, das ein wenig aus dem Heineken-Warsteiner-Budweiser-Einerlei herausstach. Obwohl ich zunächst einen großen Bogen darum gemacht habe, denn die Front des Restaurants in Richtung Hafen sieht dermaßen wenig einladend, ja, geradezu abschreckend aus, dass man den Eindruck bekommt, man müsse, wenn man denn wirklich einträte, der erste Gast seit Tagen sein…
Auf der anderen, der Straßenseite, sah es dann aber etwas besser aus.
Bereits draußen auf der schwarzen Tafel mit den Tagesangeboten wurde unmissverständlich darauf hingewiesen, dass es hier Special Icelandic Beers gebe, wenn auch nur in der Flasche. Dazu regionale Küche, dominiert von Fisch, Lamm und Minkwal, und für die amerikanischen Geschäftsreisenden dieser Welt, für die es bereits Beweis ihrer interkulturellen Kompetenz ist, wenn sie von selbst bemerken, dass man nicht überall in Dollar zahlen kann, natürlich auch Hamburger.
Hinein also.
Aber nicht wegen er Hamburger, natürlich.
Ein gemütliches Ambiente, ein weiter Blick auf den Hafen und den offenen Atlantik. Durch die hässliche Front des Restaurants, nicht auf selbige. Insofern ganz wunderbar. Und wie es der Zufall will, tauchte für ein paar Momente im Wasser auch die Rückenflosse eines mittelgroßen Wals, vermutlich eines Minkwals, auf.
Das freundliche Personal erwies sich bezüglich der isländischen Spezialbiere als recht fachkundig und konnte sogar eine Empfehlung für eine sinnvolle Reihenfolge abgegeben. Auch wenn es sich dann herausstellte, dass es nur vier verschiedene Biere gibt, und diese alle aus ein und derselben Kleinbrauerei kommen, und dass diese zu allem Überfluss auch noch eine in die Großbrauerei Gull integrierte Mikrobrauerei ist, so waren sie doch sehr schmackhaft.
Borg Brugghús nennt sich die Mikrobrauerei, und es handelt sich in der Tat um ein schmuckes, kupfernes Sudwerk, auf dem die Biere entstehen. Das Sudwerk steht aber innerhalb des Großbetriebs Ölgerðin – Egill Skalagrímsson, und ist dem Bierreisenden nicht ohne vorherige Anmeldung und nur im Rahmen einer geführten Brauereibesichtigung zugänglich.
Die Borg-Biere tragen schlichte Etiketten mit Packpapier-Anmutung, sind durchnummeriert und haben, neben ihrer Stilbezeichnung kurze, auf Isländisch sehr aussagekräftige Namen.
Angesichts der isländisch typischen, astronomischen Preise von sieben bis acht Euro für 0,33 l und der Tatsache, dass wir es die Tage schon einmal probiert hatten und der Preis, obwohl wir das Bier für gut befunden hatten, von einer unnötigen Wiederholung abschreckt, übersprangen wir das Bier Nummer 3, das Úlfur India Pale Ale, und begannen direkt mit der Nummer 10, dem Snorri, einem, so das Etikett, Ìslenskt Öl. Ein isländisches Bier also. Was immer das für ein Stil sein soll – die Liste des BJCP oder die des European Beer Star kennt diesen Stil jedenfalls nicht. Die Neugier war also groß, die Überraschung nach dem ersten Schluck weniger. Ein feines, wenn auch nicht sehr isländisch-originelles Witbier perlte erfrischend über unsere Zunge. Feine, fruchtig-spritzige Koriander-Noten, etwas Herbe von den Orangenschalen, und eine spritzige Perligkeit, wie sie einem Witbier gebührt. Gut! Wenn auch der Name Snorri, von Snorri Sturluson, einem altisländischen Historiker und Dichter aus dem 12. Jahrhundert, auf eine Historie hinweist, die dieser Bierstil nicht einmal in Belgien hat. Vor fast neunhundert Jahren waren Orangenschalen in diesem Teil der Welt definitiv noch unbekannt…
Es folgte die Nummer 13, das Myrkvi Porter. Myrkvi heißt Eklipse, also Verdunkelung, Finsternis, und das Porter unter diesem Namen machte selbigem alle Ehre, tiefschwarz stand es im Glas. Ein gutes, sehr stilsicheres Porter, schön samtig und aromatisch. Hätte gut und gerne auch irgendwo in London aus dem Zapfhahn oder der Beermachine gekommen sein können. Aber hier halt „nur“ aus der Flasche…
Blieb nun nur noch ein unverkostetes Bier, die Nummer 19, das Garún, ein Icelandic Stout. Die Bedienung fühlte sich freundlicherweise bemüßigt, uns zu warnen, und zwar zum einen vor dem Alkoholgehalt von sage und schreibe 11,5% und zum anderen vor dem Preis, 1600.- ISK, also rund elf Euro. Wir bestellten trotzdem, und während wir auf das Bier warteten, machte ich mir Gedanken über die wunderliche Bezeichnung Garún, ein Wort, das auch im Isländischen nicht sofort verstanden wird. Aus der Mythologie kommt es, aus einer alten Geschichte, in der eine Frau namens Guðrún von einem Geist immer als Garún angesprochen wird, da ihr Name mit dem isländischen Wort Guð, Gott, beginnt, und Gott von diesem Geist nicht aus- beziehungsweise angesprochen werden kann.
Nun ja, der Name des Biers, Garún, also per definitionem nicht göttlich, das Bier selbst hingegen schon. Eine unbeschreibliche Dichte und samtige Komplexität, eine mächtige Malzigkeit, die den hohen Alkoholgehalt so wunderbar maskiert, dass niemals auch nur eine Ahnung von Spritigkeit entsteht, eine stabile und für diesen extremen Alkoholgehalt überraschend langlebige, beigefarbene Schaumkrone – wir waren einfach nur begeistert. Ein tolles Bier. Auch wenn es aus einer Brauerei stammt, die sonst für üble Massenbiere bekannt und gefürchtet ist.
Summa summarum: Reisender, kommst Du nach Keflavík, so folge meinem Rat und vermeide die Gull-, Viking- und Thule-Schänken und besuche die einzige Tränke in diesem kleinen Ort, in der es ordentliches Bier gibt, das Ráin!
Das Ráin ist täglich ab 11:00 Uhr durchgehend bis in die Nacht geöffnet. Restaurant und Bar sind voneinander getrennt, aber die Biere des Borg Brugghús gibt es auf beiden Seiten. Vom Fass leider nur Industriebiere. Durch die zentrale Lage im Stadtzentrum Keflavíks ist das Ráin problemlos von fast jedem Stadthotel zu Fuß zu erreichen; vom Flughafen aus sind es per Auto oder Taxi lediglich sieben Minuten.
Veitingastaðurinn Ráin
Hafnargötu 19
230 Keflavík
Island
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