Am 1. Oktober 2014 erschien die elektronische Zeitschrift über das Hausbrauen brau!magazin zum ersten Mal. Meinen darin enthaltenen Artikel über die polnische Hausbrauerszene möchte ich natürlich auch den Lesern meines eigenen Blogs nicht vorenthalten:
Die polnische Hausbrauerszene
Es war einmal ein junger deutscher Hausbrauer, der auf Wunsch seines Arbeitgebers Ende der 90er für drei Jahre ins ferne Warschau ziehen sollte. Natürlich wollte er auch in weiter Ferne nicht auf sein Hobby verzichten, und so machte er sich gleich daran, im noch jungen Medium Internet Kontakte zu knüpfen und Gleichgesinnte zu suchen. Wie groß war jedoch sein Erstaunen, als er auf die in einem internationalen MailingForum, dem Homebrew Digest, gestellte, unschuldige Frage, ob es denn in Warschau auch Hausbrauer gebe, die überraschende Antwort bekam: „Wenn Du hierher kommst, dann sind wir schon zu zweit!“
Der junge Hausbrauer ließ sich davon jedoch nicht entmutigen, immerhin konnte er durch seinen Umzug in die Hauptstadt Polens die Anzahl der dort aktiven Hausbrauer um gewaltige 100% steigern – rein mathematisch ein großer Erfolg. Und auch praktisch, denn nun konnten die Warschauer Hausbrauer immerhin schon zu zweit bei den wenigen örtlichen Brauereien Klinken putzen gehen und um Malz, Hopfen und Brauhefe betteln. Rahmenbedingungen, die den deutschen Hausbrauern des Jahres 2014 völlig unvorstellbar erscheinen mögen.
Obwohl die drei Jahre Auslandsaufenthalt rasch verstrichen, hat unser Hausbrauer seine Kontakte nach Polen nicht mehr abreißen lassen, sondern ist bis heute der dortigen Bierszene eng verbunden geblieben.
Der junge Hausbrauer, von dem in dieser Einleitung die Rede ist, war ich selbst – und mit einem Abstand von über 15 Jahren und mittlerweile nicht mehr wirklich jung erscheint es mir nach wie vor schier unglaublich, dass aus diesen bescheidenen Anfängen eine Hausbrauerszene erwachsen ist, die in ihrer Größe und Dynamik in Mitteleuropa ihresgleichen sucht.
Aus ersten Schritten wurde eine gewaltige Bewegung
Kurz nach unserem Kennenlernen 1998 und den ersten erfolgreichen gemeinsamen Suden hatten der andere Hausbrauer, Andrzej Sadownik, und ich durch Zufall die Bekanntschaft eines jungen, bierbegeisterten Journalisten, Ziemowit Fałat, gemacht, der sich bemühte, ein kleines Magazin über Bier herauszugeben. In einer der ersten Nummern des „Piwosz“, des „Bierliebhabers“, wie er die Zeitschrift nannte, veröffentlichte ich einen kurzen Artikel über das Hausbrauen („Nawarz Piwa!“), und die Wucht der Reaktionen auf diesen Artikel traf mich völlig unvorbereitet: In Briefen, Telefonaten und zunehmend häufiger auch eMails wurde ich überschwemmt mit Detailfragen zum Brauprozess, zur Rohstoffbeschaffung, zu den notwendigen Brauutensilien… Mühsam kämpfte ich mich durch die Anfragen und versuchte, jede einzelne von ihnen geduldig zu beantworten. Dass dies der Startschuss für eine landesweite Bewegung sein sollte, wurde mir erst viel später bewusst.
Zwar kehrte ich 2001 wieder nach Deutschland zurück, Andrzej aber nutzte den Schwung der ersten Begeisterung und begann, das Thema Hobbybrauen in Polen systematisch, geradezu professionell anzugehen. Parallel zu einer großen Tauschbörse von Bierwerbemittel-Sammlern, die seinerzeit im Süden Polens von der zweitgrößten Brauerei des Landes, der zum Heineken-Konzern gehörenden Brauerei Żywiec, organisiert wurde, veranstaltete er 2003 zum ersten Mal einen Hausbrauwettbewerb, bei dem die eingereichten Biere von professionellen Brauern und Labormitarbeitern verkostet und bewertet wurden. Ein großer Erfolg. Zwar kaum mehr als ein Dutzend Teilnehmer, aber über die Siegerehrung, die im Rahmen der Tauschbörse stattfand, wurde von den Medien begeistert berichtet – dass man nicht nur daheim (illegal!) Schnaps („Bimber“) brennen, sondern auch Bier brauen kann, und das sogar völlig legal, schien eine Sensation.
Der Bedarf an Malzen, Hopfen und Hefen war von einem auf den anderen Tag da, und Ziemowit beschloss, den Journalismus an den Nagel zu hängen und stattdessen einen Internet-Versand für Hausbrauzubehör aufzuziehen, die Firma BrowAmator.
Zeitsprung: Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2014.
15 Jahre rasende Entwicklung
BrowAmator ist schon lange nicht mehr der einzige Hausbrauzubehör-Händler, wenn auch nach wie vor der größte. Es gibt nicht mehr zwei Hausbrauer in Polen, sondern – nach Umsatzzahlen der Zubehör-Händler geschätzt – mindestens 10.000, wenn nicht mehr. Am Hausbrauwettbewerb in Żywiec nehmen nicht mehr ein Dutzend Biere teil, sondern fast 800. Und es ist nicht mehr der einzige Wettbewerb dieser Art – über das Jahr verteilt finden mehr als ein Dutzend dieser Veranstaltungen statt. Das Land ist von einem Hausbraufieber erfasst. Seit 2009 darf der Gewinner der Hausbrauwettbewerbs in Żywiec in der zum Konzern gehörigen Schlossbrauerei Bracki in Cieszyn einen kommerziellen Sud, den sogenannten Grand Champion, nach seinem Siegerrezept brauen.
Mehrere zehntausend Flaschen und hunderte Fässer mit diesem Bier kommen in den Handel, werden von der Żywiec-Brauerei professionell beworben und mit passenden Gläsern, Bierdeckeln und weiteren Accessoires vermarktet, und wenn mittlerweile schon traditionsgemäß am 6. Dezember jedes Jahres dieses Bier endlich im Handel erscheint, bilden sich vor den Supermärkten und Bars in ganz Polen lange Schlangen, um den heiß ersehnten Grand Champion endlich verkosten zu können.
Seit 2010 gibt es auch eine nationale Vereinigung der polnischen Hausbrauer mit mittlerweile 500 sehr aktiven Mitgliedern, die Polskie Stowarzyszenie Piwowarów Domowych, kurz PSPD. Andrzej Sadownik wurde ihr erster Vorsitzender, Ziemowit Fałat wurde Vorstandsmitglied und Herausgeber der Vereinszeitung Piwowar, „Der Bierbrauer“. Der Verein ist in den sechzehn Wojewodschaften Polens (etwa unseren Bundesländern vergleichbar) mit Ortsgruppen vertreten und auf nahezu allen Bierfesten und Genussveranstaltungen im Land mit Hausbrauvorführungen oder Wettbewerben präsent. Längst ist die Żywiec-Brauerei nicht mehr die einzige, die ein Siegerbier braut – zahlreiche regionale oder Gasthausbrauereien sind stolz darauf, ein Bier nach dem Rezept des Gewinners des örtlichen Hausbrauwettbewerbs brauen und ausschenken zu dürfen.
Dadurch sind die Erwartungen an die Wettbewerbe und ihre Organisation aber auch gewaltig gewachsen. Seit 2011 führt die PSPD zweimal jährlich in Zusammenarbeit mit der Landwirtschaftsakademie SGGW in Warschau und dem Labor der Brauerei Warka eine professionelle Verkoster-Ausbildung durch – nach zwei vollgepackten Seminartagen und viel Selbststudium müssen sich die Absolventen dieser Ausbildung einer praktischen und theoretischen Prüfung stellen, die nicht ohne ist. Nur wer die Mindestpunktzahl erreicht und in keinem der Schlüsselthemen scheitert, bekommt das Zertifikat, das ihn fortan berechtigt, nicht nur als Verkoster an Hausbrauwettbewerben teilzunehmen, sondern diese auch zu organisieren und zu leiten. Wie anerkannt diese Verkosterausbildung auch außerhalb von Hausbrauerkreisen ist, zeigt die Tatsache, dass auch zunehmend mehr Gastronomiebetriebe oder Kleinbrauereien ihr Personal an diesem Kurs teilnehmen lassen.
Vom Hausbrauer zum Craft-Bier-Brauer
Zeitgleich mit der rasanten Entwicklung des Hausbrauwesens und von ihr nicht unbeeinflusst, findet in Polen aber gerade auch eine Craft-Bier-Revolution statt. Beflügelt vom Erfolg seines BrowAmator-Versands hat sich Ziemowit Fałat vor drei Jahren zusammen mit zwei weiteren Bierliebhabern, Marek Semla und Grzegorz Zwierzyna, als Wanderbrauer versucht. Unter der Marke Pinta wurden seitdem mehrere Dutzend Craft-Biere produziert, die auf dem Markt eingeschlagen haben wie eine Bombe. Auf dem Fuße folgte Bartek Napieraj mit der Marke AleBrowar, und mittlerweile gibt es mindestens ein Dutzend Craft-Brewer in Polen, die diesen Namen verdienen – Tendenz steigend. Zum Teil sind es Wanderbrauer oder Gipsy-Brewer, die sich – wie in Deutschland beispielsweise Fritz Wülfing – in regionale Brauereien einmieten und dort ihr Bier nach eigenem Rezept brauen und selbst vermarkten. Zum Teil kaufen oder bauen sie sich aber auch eine eigene Brauerei. Pioniere für letzteres waren Jacek Materski, Piotr Wypych und Dariusz Doroszkiewicz, die in einem Vorort von Warschau als Brauerei Artezan einen fast zweijährigen Kampf mit einer polnischen Bürokratie geführt haben, die nicht einmal im Ansatz wusste, wie sie mit dem Errichten einer Kleinstbrauerei formal und juristisch korrekt umgehen sollte.
Aber der Kampf hat sich gelohnt: Die drei jungen Brauer – übrigens alle drei ehemalige Hausbrauer – suchen bereits nach einer neuen Immobilie, weil sie in der alten gar nicht so viel produzieren können, wie nachgefragt wird. Gleiche Erfahrungen machen Tomasz Rogaczewski mit seiner Pracownia Piwa in Krakau, Łukasz Jajecznica mit der Brauerei Podgórz in den Bergen nördlich von Zakopane oder Agnieszka Łopata mit ihrer Brauerei Ursa Major, die gleichzeitig als Kulturzentrum dient, kurz vor der ukrainischen Grenze.
In allen nennenswerten polnischen Städten eröffnen Multitaps mit zehn, zwölf, fünfzehn, zwanzig, mittlerweile bis zu 57 Zapfhähnen, die teilweise sogar 24 h rund um die Uhr geöffnet haben. An keinem dieser Zapfhähne wird das Bier schal oder gar sauer, die Craft-Brewer können gar nicht so schnell nachliefern, wie die Fässer ausgetrunken werden, und regelmäßig machen die Bierliebhaber in den einschlägigen Internetforen ihrem Unmut Luft, dass ihre Heimatstadt bei der letzten Lieferung des fantastischen eichenholzgereiften Triple-Biers oder des Imperial India Pale Ales wieder einmal zu kurz gekommen sei.
Ganz unberechtigt ist der Unmut nicht, denn das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zeigte sich unlängst erst auf dem Breslauer Festival des guten Biers. Bereits am Mittag des zweiten Festivaltages musste die Mehrheit der Craft– und Wander-Brauer ihre Stände schließen, weil die extra im Vorfeld aufgestockten Vorräte bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken waren.
Und während die „Großen der Branche“, Pinta und AleBrowar, bereits ihre ersten Kollaborationssude mit den international bekannten Craft-Brewern wie beispielsweise Nøgne Ø oder O‘Hara brauen (und beide auch Pläne für jeweils eine eigene, gar nicht mehr so kleine Brauerei schmieden), drängen von unten immer neue Kleinbrauer nach. Szałpiw, Doctor Brew, Birbant, Widawa, Haust bereichern den Markt mit immer neuen Bieren, teils extrem experimentell, teils eher konservativ auf Durchtrinkbarkeit getrimmt. Und die Bierfachgeschäfte und Multitaps nehmen alles an, ihre Gäste saugen alles auf, so dass die Betreiber in ihrer Not sogar noch zusätzlich auf Craft-Biere der Nachbarländer zurück greifen müssen, um den stetig wachsenden Durst stillen zu können.
Andauernder Hype oder kurzlebige Blase?
Wie lange dieser Hype andauern wird, ob er sich gegebenenfalls sogar verstetigt, bleibt abzuwarten, aber die Zeichen stehen gut. Zum einen sind selbst die großen Supermarktketten Tesco, Real oder Alma, ja selbst Lidl Polska bereit, den Craft-Bieren Platz im Regal einzuräumen, zum anderen sind die Player der Szene eng miteinander verbunden. Fast alle von ihnen haben als kleine Hausbrauer vor wenigen Jahren erst begonnen, man kennt sich, man schätzt sich, und man unterstützt sich gegenseitig. Man braut zusammen, tauscht Ideen und Rezepte aus, vermarktet gemeinsam und betreibt die Stände auf den zahlreichen Bierfesten friedlich nebeneinander, oft sogar als große Gemeinschaftsstände mit riesiger Auswahl. Zahlreiche Gasthausbrauereien sprießen wie Pilze aus dem Boden, und im Gegensatz zum in Deutschland favorisierten erzkonservativen Triplett „Hell – Dunkel – Weizen“ findet man bei ihnen immer mindestens ein, meistens aber viele zusätzliche Sonderbiere auf der Getränkekarte. Und viele der Gasthausbrauer und kleinen Handwerksbrauer holen sich Inspirationen bei den örtlichen Hausbrauern, freuen sich über Rezeptvorschläge oder gehen gar aktiv auf die Szene zu und bitten die Hausbrauer, doch einmal einen Namenssud einzubrauen. Die Pracownia Piwa in Krakau oder die Brauerei Jan Olbracht in Thorn haben ganze Serien von Bieren erfolgreich auf dem Markt platziert, die von immer anderen Hausbrauern erdacht worden sind, die Brauerei Reden in Chorzów, die Stary Browar Rzeszowski in Rzeszów und die Browar Miejski in Bielitz haben konsequenterweise gleich einen ehemaligen Hausbrauer fest angestellt, andere werden bald folgen.
So schnell scheint die Blase also nicht zu platzen – es scheint doch eine breite und recht nachhaltige Bewegung zu sein, eine Bewegung hin zum guten Bier. Gutes Bier, das nicht nur rasche Erfrischung nach einem harten Arbeitstag sein soll oder gar für einen schnellen Rausch missbraucht wird, sondern Bier, das genossen werden möchte und genossen wird. Im Multitap an der Bar, auf dem Bierfestival im Freien oder bei einer Verkostung im Bierfachgeschäft. Mit Ruhe und Muße, und mit allen Sinnen.
Die im Text hinterlegten Links bieten zahlreiche weitere Informationen, und wer zunächst nur Bahnhof versteht, sollte sich von der komplizierten polnischen Sprache nicht abschrecken lassen. Eine maschinelle Übersetzung per translate.google.com eröffnet einen ersten, vorsichtigen Zugang zu den Informationen, und wem das nicht reicht, der kann sich ruhig in englisch oder deutsch an die angegebenen eMail-Adressen wenden – die Bierszene in Polen ist offen, und irgendwie wird man einen Weg finden, sich zu verständigen. Seit Polens Beitritt zum Schengen-Abkommen sind nicht nur die Grenzen zu unseren Nachbarn offen, sondern auch deren Herzen.
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