Napajedla, ein kleines Städtchen an der Grenze zur Walachei. Harmonische Hügellandschaften, mildes Klima, wenig Infrastruktur. Vielleicht ein bisschen Tourismus, vor allem Wanderer und Radfahrer. Viel passiert hier nicht, und viel Sehenswürdigkeiten gibt es auch nicht. Das Rathaus ist ganz hübsch, es gibt ein kleines Barockschloss und eine Barockkirche. Warum hier zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein für damalige Verhältnisse recht großes und eindrucksvolles Hotel gebaut wurde, erschließt sich nicht unmittelbar.
Ob dieser Hotelbetrieb ein Erfolg geworden wäre? Niemand weiß es, denn unmittelbar nach Fertigstellung 1905 starb der Bauherr, Antonín Skopal-Procházka. Seine Witwe verkaufte das Gebäude, und es wurde unter wechselnder Leitung als Theater, Konzertsaal und Pensionsbetrieb genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zu einem Warenlager und verfiel zusehends.
Auch nach der Wende änderte sich nicht viel zum Besseren. Mehrere Besitzer und Pächter probierten es mit unterschiedlichen Restaurantkonzepten, doch niemand hatte nachhaltigen Erfolg. Möglicherweise lag dies auch daran, dass nie grundlegend renoviert wurde und somit das Ambiente des einst doch so prächtig geplanten Hotels immer zu wünschen übrig ließ.
Das Jahr 2015 markiert nach 110 Jahren einen Neuanfang. Das Haus wird verkauft und von Grund auf renoviert und umgebaut. Zum ersten Mal gibt es ein Konzept, das nicht nur die Restauranträume im Erdgeschoss umfasst, sondern die Nutzung des ganzen Gebäudes als Restaurant, Bierbar, Brauerei, Hotel, Ballsaal und Bier-Spa vorsieht. Im Mai 2018 ist der Umbau noch nicht ganz abgeschlossen, aber Restaurant, Biergarten, Spielplatz und die Brauerei, die Pivovar Chmelnice, sind bereits in Betrieb.
Es ist ein wunderbarer Frühlingstag, es ist sonnig und warm, aber noch nicht zu heiß, und so ist es im Restaurant menschenleer. Die Gäste sitzen stattdessen auf der Terrasse, schauen den Kindern beim Herumtoben auf dem kleinen Spielplatz zu und genießen ihr Bier.
Wir haben Glück und finden einen Platz am Rand der Terrasse, so dass wir noch ein wenig die Nachmittagssonne genießen können und nicht ganz im Schatten sitzen müssen. Zwei verschiedene Biersorten gebe es, erklärt uns die freundliche Kellnerin – ein Helles mit 12° und ein Halbdunkles mit 11° Stammwürze. Wir beginnen mit dem Hellen, dem Chmelničák 12°, und bestellen etwas zum Essen dazu.
Während die Kellnerin sich um das Bier und das Essen kümmert, erkunde ich einmal den Restaurantbereich. Schlichtes, aber trotzdem durchaus ansprechendes Mobiliar; dunkles Holz, Wandvertäfelungen und eine dunkeltürkisfarbene Tapete verleihen dem Raum eine gewisse Eleganz. Links hinter der kleinen Theke sehe ich zwei schöne kupferglänzende Ausschanktanks in einem simplen Edelstahlrack. Beide angebotenen Biere werden also direkt vom Tank gezapft, sehr schön. Das verspricht Frische.
Ich frage die junge Dame hinter der Theke, wo denn die Brauerei stünde, und sie öffnet mir die Tür zum Nebenraum. Hinter einer dicken, leider nicht ganz sauberen Glasscheibe steht das Sudwerk. Keine Schaubrauerei, kein poliertes Kupfer, nichts für’s Auge, sondern einfache Edelstahlgeräte, wie sie auch in einer Garage oder irgendwo im Keller stehen könnten. „Tschechische Produktion“, bemerkt sie noch, verschwindet dann aber wieder hinter der Theke und lässt mich raten, ob sie damit den Hersteller des Sudwerks meinte oder nur ihren Stolz auf das hier produzierte Bier ausdrücken wollte.
Viel zu sehen gibt es leider nicht, und es reicht nur für ein paar Fotos durch das Glas.
Draußen wartet mittlerweile mein Bier auf mich. Schön hopfig und frisch ist es, erstaunlich hopfig sogar. Eine kräftige, ausdrucksstarke Bittere. Dazu ein Hauch von Diacetyl, aber ansonsten nur zurückhaltende Hopfenaromen. Ein recht kerniges und erfrischendes Bier, sehr schön, um es in der Sonne im Biergarten ruckzuck weg zu zischen. Nicht umsonst halten die Tschechen mit weitem Abstand und unangefochten den Weltrekord im Biertrinken, denke ich mir. Fast überall laden die Biere dazu ein, weit mehr zu trinken, als man eigentlich will. Die Biere sind einfach zu süffig.
Zum deftigen, aber trotzdem appetitlich zubereiteten Essen bestelle ich mir das andere Bier, das Chmelničák Polotmavé 11°, das elfgrädige Halbdunkle also. Etwas weniger stark gehopft, etwas malziger, ein bisschen runder und süßlicher. Ebenfalls aber nicht zu stark gespundet, ebenfalls frisch und ebenfalls sehr süffig. Auch hier wieder ein Hauch von Diacetyl, der das weiche Bier noch ein wenig abrundet. Ach, wieder ein Bier, das es auch verdient hätte, in großen Krügen mit großen Schlucken getrunken zu werden.
Sehe ich mich auf der Terrasse um, so kommt genau diese Botschaft auch bei den meisten Gästen an. Egal, ob Familie mit Kindern, älteres Ehepaar auf dem Fahrrad oder die Gruppe von jungen Leuten am anderen Ende der Terrasse: Überall stehen Halbliterkrüge, werden rasch geleert und durch volle ersetzt. Typisch für Tschechien: Das in Deutschland so oft beobachtete affektierte Zieren („Ach, nein, ein großes Glas, das ist immer so viel, das bläht so schrecklich, und, huch, das enthält ja Alkohol und Kalorien, und glutenfrei ist es vielleicht auch nicht… Da nehme ich doch lieber ein lauwarmes Wasser ohne Kohlensäure!“) findet man hier überhaupt nicht. Wichtig ist, dass es schmeckt. Der Genuss steht im Vordergrund, für die Reue ist, wenn überhaupt, später noch Zeit.
Hatte ich eben beim Blick auf das Sudwerk also noch die Sorge, ob es mit seinen geschätzt mindestens fünf, vermutlich aber mehr Hektolitern nicht ein wenig überdimensioniert sei, ist diese Sorge nun verflogen. In den beiden Ausschanktanks sollte das Bier nicht alt werden, wenn die Gästeschar heute typisch für die Menschen in Napajedla ist.
Vielleicht gelingt es dem mittlerweile über 110 Jahre alten Hotelgebäude nun endlich, sich zu etablieren und zu einer echten Institution im Ort zu werden. Angesichts der Bierqualität wäre es zu wünschen. Ein herzliches Prost auf eine der, mit gerade einmal sechs Monaten, jüngsten Brauereien im Land!
Die Pivovar Chmelnice wurde im November 2017 eröffnet und hat eine geplante jährliche Ausstoßmenge von 800 hl. Das Restaurant ist täglich ab 11:00 Uhr durchgehend geöffnet; kein Ruhetag. Zwar kann man direkt hinter dem Gebäude kostenfrei parken, aber wenn man das Bier auch probieren möchte, sollte man darüber nachdenken, statt mit dem Auto doch lieber mit dem Zug zu kommen. Der Haltepunkt Napajedla liegt etwa 800 m südlich der Brauerei und wird im Zwei-Stunden-Takt angefahren.
Pivovar Chmelnice
Palackého 115
763 61 Napajedla
Tschechien
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