Selbst in Deutschland wurde die Nachricht in den Medien verbreitet: Vorgestern, am 31. Oktober 2019, haben die Washington Nationals zum ersten Mal die World Series im Baseball gewonnen und brachten damit den Pokal der Major League Baseball 95 Jahre nach den Senators zum ersten Mal wieder in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Kurioserweise sogar, ohne in den sieben Finalspielen auch nur ein Heimspiel gewonnen zu haben. Vier Spiele gewannen die Nationals in Houston bei den Houston Astros, dreimal verloren sie daheim gegen diese.
Noch zwei Tage nach dem Spiel ist die Stadt rund um das Stadion der Nationals wie verwandelt. Die Menschen feiern, singen, trinken und lachen – was einen Besuch in der Bluejacket Brewing Co. durchaus zu einem Erlebnis macht.
Die Brauerei liegt nur fünf Gehminuten vom Stadion der Washington Nationals entfernt, und an Spieltagen ist hier vor und nach dem Match nicht einmal ein Stehplatz an der Bar zu bekommen. Na, und heute, da der Siegesrausch noch nicht abgeklungen ist, erst recht nicht…
Es ist noch nicht einmal abends, und doch muss ich mich langsam und geduldig in den großen Schankraum der Brauerei hineinschieben. Immer mal wieder verlässt ein Gast den Bereich zwischen den überfüllten Tischen und der Bar, und dann schiebt sich die wartende Menge wieder einen Schritt nach vorn. Eine gemütliche Probierstube, einen Tasting Room, in dem man nicht nur die hier vor Ort entstandenen Biere verkosten kann, sondern der auch als Bottle Shop und Souvenirgeschäft dient, sehe ich links von mir, aber auch dort ist es rappelvoll.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie schön es sein müsste, sich an ruhigen Tagen dort für einen Moment hinzusetzen, in Ruhe ein oder zwei Biere zu verkosten und nach einem erlebnisreichen Tag in Washington ein wenig zu entspannen. Stattdessen stehe ich im großen Schankraum und mache gerade wieder einen kleinen Schritt vorwärts. Noch rund zwanzig Minuten, dann dürfte ich die Theke erreicht haben, schätze ich.
Rechts von mir sehe ich, von Glaswänden abgetrennt, den Restaurantbereich. Lange Tische, nicht so überfüllt wie der Barbereich, aber alles ausreserviert. Heute ist dort selbst ein einzelner Sitzplatz nicht zu bekommen, signalisierte mir der junge Kellner, den ich beim Reinkommen gefragt habe. Also weiter in der Schlange stehen.
Erneut rücken alle einen Schritt vor.
Jetzt kann ich den großen Raum schon ganz gut einsehen. Auf insgesamt vier Ebenen verteilen sich die Installationen der Brauerei – Pfannen, Bottiche, Kessel, Tanks, KEGs, Holzfässer. Alles hat seinen Platz, alles steht auf stählernen Böden, die ihrerseits fest in die Stahlkonstruktion der Halle eingehängt sind. Das ganze Gebäude sieht aus wie eine überdimensionale Fischertechnik-Konstruktion.
Wir machen wieder einen Schritt vorwärts.
Das Gebäude stammt aus dem Jahr 1919 und ist jetzt genau 100 Jahre alt. Es war Teil des Navy Yards Ship and Munitions Manufacturing Complex und nannte sich Boilermaker Shops, und heute ist es eines der letzten noch erhaltenen echte Industriegebäude aus dieser Zeit. Ich schaue nach oben und sehr die Dachkonstruktion, die die riesige Halle überspannt. Ziegelwände, Stahlträger, große Glasflächen. Form follows function. Seit 2013 befindet sich hier nun die Bluejacket Brewing Co.
Die stählernen Geräte des Sudwerks, die polierten Gär- und Lagertanks, ebenfalls aus Stahl, die aufwändige Verrohrung von einer Ebene zur nächsten – es sieht imposant aus. Mittendrin ein Regal mit Dutzenden von Holzfässern. Das natürliche Material wirkt fast fremd in dieser industriellen Umgebung. In den Fässern reifen unterschiedliche Biere heran, Barrel Aging ist derzeit in den Kreativbrauereien der Welt angesagt. Ich recke den Hals, kann aber nicht genau sehen, wie viele Fässer es wirklich sind. Ziemlich viele, so viel kann ich erkennen…
Es geht wieder einen Schritt weiter.
Mittlerweile stehe ich unter einer riesigen Bierliste. Auf zwanzig Tafeln werden die hier angebotenen Biere angepriesen. Nein, auf neunzehn, denn eine der Tafeln enthält lediglich den Schriftzug der Brauerei. Neunzehn Biere direkt aus den Ausschanktanks, so wie es aussieht. Die Batterie von zwanzig Zapfhähnen (Was kommt aus dem zwanzigsten Hahn? Trinkwasser, vermutlich?) ist direkt vor die Tanks montiert, davor kommt eine lange Theke, und davor wiederum stehen die Menschenmassen, in denen ich derzeit verkeilt bin.
Einen winzigen Schritt geht es vorwärts.
Geduldig studiere ich die neunzehn Hinweistafeln. Die Namen der Biere sind originell. Das helle Lager heißt „For the Company“, der helle Bock „Metal Guru“. Das „Forbidden Planet“ ist ein hopfengestopftes Kölsch, und nach einem Woodie-Guthrie-Album „Hobo’s Lullaby“, des Wanderarbeiters Wiegenlied, ein Triple IPA. Vermutlich ist es so alkoholstark, dass es den Trinker wirklich tief und traumlos einschlafen lässt. Ein Tag harter Arbeit, ein Pint dieses Biers, und das Wiegenlied wird recht kurz sein…
Gleich bin ich an der Bar angelangt.
Es wird Zeit, sich zu entscheiden. Leider geben die Tafeln an der Wand außer den Namen und Stilen der Biere keine weiteren Informationen. Alkoholgehalt? Preis? Bitterkeit? Farbe? Alles Fehlanzeige. Ich kann mich also nur und ausschließlich anhand des jeweiligen Stils entscheiden.
„How can I help you?”
Ich stehe an der Bar, und der Barmann meint jetzt wirklich mich. Freundlich, aber aufgrund des Gedränges auch ein bisschen ungeduldig fixiert er mich. „Das Forbidden Planet, bitteschön!“ Mich treibt die Neugier auf ein in den USA gebrautes Kölsch, darauf, wie der Bierstil hier interpretiert wird.
Augenblicke später habe ich mein Glas in der Hand und werde von der Theke abgedrängt. Im dichten Getümmel verkoste ich es. Leichte und aromatische, für ein Kölsch eigentlich ungewohnte Hopfennoten rieche ich. In der Kölsch-Konvention steht zwar, dass ein echtes Kölsch hopfenbetont sei, aber das stimmt wohl nur in der Betrachtung des Gegensatzes, es ist eher nicht-malzbetont. Viel Hopfen ist in einem Kölsch normalerweise nicht drin. Die USA sind aber nicht an die Kölsch-Konvention gebunden, und so spüre ich eben feine Hopfennoten, die ich aus Köln so nicht kenne.
4,2% Alkohol hat das Bier, etwas leichter als die Originale aus der Domstadt. Schön hell ist es, leicht trüb, wenig Schaum. Die Trübe passt nicht zur Kölsch-Konvention, der rasch verschwindende Schaum schon eher. Auf der Zunge spüre ich eine hopfige Herbe, für ein echtes Kölsch fehlt noch ein bisschen mehr Spritzigkeit und Frische, aber trotzdem trinkt sich das Bier sehr angenehm. Ein Bier gegen den Durst, für den großen Schluck, insofern also dem Kölsch ähnlich.
Viel zu schnell ist das Probierglas leer. Vielleicht hätte ich doch lieber ein großes Glas nehmen sollen?
Festgekeilt in der Menschenmenge stehe ich vor der Entscheidung, mich noch einmal geduldig bis zur Theke vorzuschieben oder meinen Besuch lieber abzubrechen und woanders ein zweites Bier zu trinken. Ich entscheide mich für letzteres. Aber nicht, weil ich unzufrieden wäre, nein, das bestimmt nicht. Die Brauerei gefällt durchaus, aber heute ist es mir einfach zu voll.
Raus geht es deutlich schneller als rein. Als die Menschen merken, dass ich Platz mache für andere, bildet sich rasch eine schmale Gasse, und Augenblicke später spuckt mich die Eingangstür wieder aus, auf die Straße. Es ist immer noch hell draußen…
Die Bluejacket Brewing Co. offeriert zwanzig Biere vom Fass und weitere fünf aus dem Cask, also im Fass nachvergoren und im englischen Stil ohne Druck gezapft; im Bottleshop und Tastingroom können kleine Mengen auch exotischer Sude in Ruhe verkostet werden. Es ist täglich ab 11:00 Uhr durchgehend geöffnet; kein Ruhetag. Zu erreichen ist die Brauerei in fünf Minuten zu Fuß von der Metrostation Navy Yard Ballpark der Green Line.
Bluejacket Brewing Co.
300 Tingey Street SE
Washington
DC 20003
USA
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