The Golden Cross in Coventry – ein kleines Gebäude in der Altstadt, über das ich schon ewig viel schreiben könnte, noch bevor ich hier mein erstes Bier getrunken, ja, sogar noch bevor ich den ersten Schritt über die Schwelle getan habe:
Fast 450 Jahre alt ist dieses kleine Fachwerkhaus – 1583 ist es errichtet worden. Direkt an einer Straßenecke steht es, und es ist nicht nur das schöne Fachwerk, das dieses Gebäude so besonders macht, sondern auch die Konstruktion. Von unten nach oben werden seine drei Stockwerke immer größer. Das erste Stockwerk ragt über die Wände des Erdgeschosses hinaus, und das Obergeschoss wiederum über die des ersten Stocks. Dieses Vorkragen (englisch Jettying) schützte zum einen die untenliegenden Stockwerke vor der Witterung und vergrößerte zum anderen die Nutzfläche des Hauses erheblich, zum Teil deutlich über die Grenze des Grundstücks hinweg. Nachteile waren natürlich die verminderte Luftzirkulation und die Staunässe in den unter den Vorkragen liegenden dunklen und immer schmaler werdenden Gassen, was die Verbreitung der Pest und anderer Seuchen förderte, und die höhere Brandgefahr durch den verringerten Abstand zwischen den Bauten. Aus diesem Grund wurde diese Bauweise in London beispielsweise im sechzehnten Jahrhundert verboten.
Im Coventry des 21. Jahrhunderts steht The Golden Cross mit diesen Architekturmerkmalen ziemlich allein da, und so spürt man keine Nachteile, sondern kann sich unbeschwert an der Konstruktion erfreuen.
So schön das Gebäude aber auch ist – nicht alles ist mehr Original aus dem sechzehnten Jahrhundert. Große Teile wurden Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts renoviert, glücklicherweise unter Rückgriff auf historisches Baumaterial, beispielsweise alte Eichenbalken des Glockenturms der St. Michaels Kirche. Wie durch ein Wunder hat The Golden Cross die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg fast unbeschädigt überstanden, während die nur wenige Meter weiter stehende Kathedrale 1940 völlig in Schutt und Asche versunken ist. Und so fügt es sich denn, dass hier mittlerweile seit 1661 nahezu ununterbrochen Bier ausgeschenkt wird – in diesem Jahr ist The Golden Cross nämlich erstmalig als Gastwirtschaft (Inn) erwähnt worden.
Genug der Theorie – jetzt gehen wir in das Pub hinein. Die farbigen Glasscheiben im Eingangsbereich vermitteln fast das Gefühl, eine Kirche zu betreten. Gemütliche Sitzecken, tiefe und weiche Sofas, aber auch Esstische mit Stühlen verteilen sich im Raum. Dicke, schwarze Eichenständer und -balken teilen ihn, verleihen ihm eine gemütliche Kleinteiligkeit. Eine schmale Treppe führt nach oben in weitere Nebenräume, die für geschlossene Gesellschaften genutzt werden können oder einfach als Überlauf dienen, wenn der Schankraum selbst zu voll wird.
Ganz am Ende die Bar. Noch bevor ich anfangen kann, die Bierpumpen zu zählen, sticht mir die dick mit Eis überzogene Zapfanlage von Heineken ins Auge. Das kleine Bullauge mit dem Thermometer zeigt -1° an. Ich werde diese merkwürdige Mode nie verstehen, ein Bier so kalt zu trinken, dass es erstens nach ein paar Schlucken hinter der Stirn vor Kälte zu schmerzen beginnt und zweitens eben aufgrund dieser Kälte die Geschmacksnerven betäubt. Soll man etwa nichts schmecken? Hat Heineken Fehlgeschmäcker zu verbergen? What’s up, are you afraid of tasting something?
Kopfschüttelnd bestelle ich mir ein Golden Cross Pale Ale, ein schönes malziges und trotzdem angenehm hopfenwürziges Real Ale der Caledonian Brewery. Der Stammgast an der Bar lacht ob meines wohl etwas entsetzten Blicks. „No Heineken? You’re going for the right stuff, eh?“ Ich nicke und nuckele zufrieden an meinem Pint.
Wie so oft in englischen Pubs: Die wohnzimmerartige Gemütlichkeit lässt mich länger verweilen als beabsichtigt, man kommt ins Gespräch, diskutiert über das Wetter, Politik und die Welt, vor allem aber über das Bier. Die Zeit vergeht, das zweite Glas steht vor mir. Diesmal, die Neugier hat mich getrieben, ein Lagerbier, das Three Hop Craft Lager, ebenfalls von Caledonian. Viel merkt man nicht vom Hopfen – entweder sind einfache und uninteressante Hopfensorten hinzugegeben worden, oder sie wurden so lange gekocht, bis auch das letzte feine Aroma verschwunden ist. Lediglich eine durchaus angenehme Bittere ist von den drei Hopfen geblieben. Ich bin ein wenig enttäuscht.
Ian, der Stammgast, lacht mich aus. „Ein Lager nach dem Ale? Kein Wunder, dass das nach nichts schmeckt“, amüsiert er sich und bestellt mir ein Glas Stout. „Probier mal lieber dieses hier!“ Tiefschwarz steht das Stout Coffin der Church-End-Brewery im Glas. Leicht röstig, aber nichts für meinen Geschmack. Eine süßsäuerliche Note lässt es in Richtung Milk Stout gehen, glaube ich, und das gefällt mir nicht wirklich. Ich revanchiere mich mit einer Runde Golden Cross, bevor Ian vielleicht auf die Idee kommt, einen Cider zu bestellen – denn das wäre dann überhaupt nichts mehr für mich…
Wir stehen, erzählen und trinken. Der Barmann, auch Ian, gesellt sich zu uns und erzählt, wie schön auch er es fände, dass in ruhigeren Momenten Zeit für ein gutes Gespräch mit den Gästen an der Theke ist. „Trotz der unterkühlten, frostigen Atmosphäre“, frotzele ich und klopfe an die Heineken-Zapfe. Ein paar Eisbrocken fallen herunter, Ian wischt mit einem Lappen hinterher. „Leider. Ich muss mit der Zeit gehen – zu Zeit ist das schick, eiskaltes Lager zu trinken. Ach – was heißt hier, zu trinken? Es ist ein gedankenloses Hinunterschütten, mit Trinkgenuss hat das nichts mehr zu tun!“
Wir nicken alle drei und sind uns einig. Eisgekühltes Lager, das die Geschmacksnerven betäubt? Nichts für uns. Darauf die nächste Runde Golden Ale!
The Golden Cross ist täglich ab 11:00 Uhr durchgehend geöffnet, sonnabends (Markttag) bereits ab 10:00 Uhr, sonntags dafür erst ab 12:00 Uhr; kein Ruhetag. Es liegt in der Altstadt, nur wenige Schritte von den Ruinen der Kathedrale entfernt. Am besten erreicht man das Pub mit dem Bus; von der Haltestelle Trinity Street, wo sich alle Buslinien der Stadt kreuzen, sind es drei Minuten zu Fuß.
The Golden Cross
8 Hay Lane
Coventry
West Midlands CV1 5RF
England
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