Moritz Gretzschel:
Das Reinheitsgebot ist tot – lang lebe das Reinheitsgebot

Im kommenden Jahr, 2016, wird ein hässliches Monstrum, das in Ingolstadt erschaffen wurde, ein rundes Jubiläum feiern. Was damit gemeint ist?

Natürlich denke ich nur an den Schauerroman „Frankenstein”, den Mary Shelley 1816 schrieb, im Jahr ohne Sommer, und laut dessen Handlung das berühmte Monster tatsächlich in Ingolstadt zusammengestückelt wurde [1]. Allerdings werden wir vermutlich von diesem Jubiläum kaum etwas mitbekommen, dürfte doch die öffentliche Wahrnehmung vom Jubiläum einer ganz anderen Ingolstädter Schöpfung dominiert werden: Des „bayerischen Reinheitsgebots von 1516“, das nächstes Jahr großes Jubiläum begeht. Aber hat das, was heutzutage als Reinheitsgebot beworben wird, wirklich noch etwas mit dem damaligen herzoglichen Erlass zu tun?

Was besagt es wirklich?

Um zu verstehen, was die Vorschrift in der Landesordnung von 1516 eigentlich bezweckte, müssen wir ein wenig zwischen den Zeilen lesen. Schauen wir uns den entscheidenden Absatz im Originaltext an:

„Wir wollen auch sonderlichhen dass füran allenthalben in unsern stetten märckthen un auf dem lannde zu kainem pier merer stückh dan allain gersten, hopfen un wasser genommen un gepraucht solle werdn”.

Moritz Gretzschel: Das Reinheitsgebot ist tot – lang lebe das Reinheitsgebot, Bier vor Ort, Bierreisen, Craft Beer, Reinheitsgebot
Her­zog Wil­helm IV. beklem­mend rea­lis­tisch auf dem Toten­bett. Ist sein heute bekann­tes­tes Werk, das Rein­heits­ge­bot, genauso tot? [2]

Als einzige erlaubte Zutaten werden also genannt: Gerste, Hopfen und Wasser. Entgegen der vielfach verbreiteten Ansicht ist also von Malz gar keine Rede, und es fehlt auch die Hefe. Das müssen wir uns näher anschauen:

Warum keine Hefe?

Das Fehlen der Hefe in der Landesordnung von 1516 hat schon vielfach für Verwirrung und Missverständnisse gesorgt. Oft hört man das Argument, die Hefe sei damals noch gar nicht bekannt gewesen. Das ist aber nachweislich falsch!

Zwar wurde erst im 19. Jahrhundert die Hefe als einzelliger Pilz identifiziert und die genaue Wirkung der alkoholischen Gärung durch Louis Pasteur entschlüsselt [3], doch bekannt war die Hefe schon viel, viel früher. Man war ja nicht blind und bemerkte natürlich, dass sich nach der Gärung eine beige Paste unten im Bottich abzusetzen pflegte. Und aus Erfahrung lernte man bald, dass mit Zugabe von etwas dieses „Zeugs” der folgende Sud schneller und in konstanterer Qualität ankam. Bester Beweis für die Bekanntheit der Hefe ist jedoch der urkundlich belegte Münchner Bäcker- und Brauerstreit von 1481 (35 Jahre vor dem Reinheitsgebot), in dem Herzog Albrecht IV. „der Weise” schlichtend klären musste, ob die Bäcker den Brauern deren bei der Gärung gebildete Überschusshefe nach altem Brauch abkaufen müssen.

Warum wird die Hefe dann aber nicht im Reinheitsgebot erwähnt? Ganz einfach: weil man sie nicht als Zutat, sondern als Neben- oder Abfallprodukt der Bierherstellung ansah, das nicht hinzugefügt werden müsse, sondern vielmehr bei der Gärung unvermeidlicherweise entstehe: „Nur ein gutes Bier kann auch eine gute Hefe hervorbringen.” Schließlich war noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein (und zum Teil darüber hinaus) der kuriose Irrglaube der „Urzeugung” wissenschaftlich weit verbreitet: Bestimmte Tiere (insbesondere Ungeziefer wie Mäuse, Maden und dergleichen) würden sich nicht durch geschlechtliche Vermehrung verbreiten, sondern aus verrottender Materie quasi „von selber” entstehen. Erst Louis Pasteur (ja, genau der, der schließlich auch das wahre Wesen der Hefe erkannte) konnte endgültig diesen Irrtum widerlegen.

Warum aber sollte man in einer Zutatenliste etwas reglementieren, das man nicht hinzufügen muss, sondern das vielmehr unweigerlich entsteht? Nachdem die Hefe aber deshalb nicht einmal genannt ist, ist offensichtlich, dass es auch überhaupt nichts mit dem Gebot von 1516 zu tun hat, wenn heute im Biersteuergesetz ausgerechnet anhand des Hefetyps (ober- oder untergärig) unterschieden wird, ob Malze weiterer Getreidesorten außer Gerste zulässig sind.

Warum kein Malz?

Am Beispiel der Hefe haben wir gesehen, dass die Landesordnung von 1516 nur diejenigen Stoffe reglementiert, die in die Brauerei von außen eingebracht werden. Neben- und Zwischenprodukte beziehungsweise interne Verarbeitungsschritte werden nicht betrachtet. Nun gab es damals keine industriellen Mälzereien, sondern jeder Brauer mälzte selber, was in der Berufsbezeichnung „Brauer und Mälzer” noch nachhallt. Vom Brauer erworben und eingebracht wurde das Getreide, das dann schon im ureigensten Interesse des Brauers, nämlich um es überhaupt verzuckern zu können, selbstredend vermälzt wurde. Und selbst wenn jemand nur einen Teil seines Getreides vermälzt hätte, wen hätte es interessiert? Ging es doch primär darum, die verwendeten Getreidesorten zu reglementieren, nicht aber, einen bestimmten Herstellungsprozess vorzuschreiben.

Moritz Gretzschel: Das Reinheitsgebot ist tot – lang lebe das Reinheitsgebot, Bier vor Ort, Bierreisen, Craft Beer, Reinheitsgebot
Die vier klas­si­schen Zuta­ten Gers­ten­malz, Hop­fen, Was­ser, Hefe

Also zeigt sich auch hier keinerlei Kontinuität zwischen der Landesordnung von 1516 und heutiger Gesetzgebung. Laut 1516 wäre etwa ein Stout mit Gerstenflocken und Röstgerste zulässig (weil nur aus Gerste hergestellt), nach dem Biersteuergesetz von 1993 jedoch nicht (weil zum Teil unvermälzt).

Warum nur Gerste?

Die Beschränkung auf Gerste als Braugetreide bedeutet vor allem eines: kein Weizen!

Gerste eignet sich hauptsächlich als Braugetreide und kaum zum Backen. Roggen wiederum taugt besser zum Backen als zum Brauen. Nur Weizen eignet sich für beides gleichermaßen gut. Und hier wurde von den Wittelsbachern Regelungsbedarf gesehen, um in Zeiten von Getreideknappheit das wertvolle Brotgetreide Weizen der Ernährung vorzubehalten. Gleichzeitig aber sicherten sie sich in den eigenen „weißen Brauhäusern” das Monopol, Weißbier zu brauen, was insbesondere während der (nur ein Jahr später festgelegten) sommerlichen Sudpause untergärigen Braunbiers äußerst lukrativ war [4].

Für alle anderen aber war das Gebot von 1516 vor allem ein Anti-Weißbier-Gesetz! Für bürgerliche Brauer „in den Städten, Märkten und auf dem Lande” wurde damals das sogenannte Braunbier, ein gehopftes Gerstenbier, festgeschrieben. Über den Unsinn, heute auch ausgerechnet auf Weißbier-Etiketten das 1516-Sprüchlein zu drucken, werden wir weiter unten noch reden müssen.

Warum nur Hopfen?

Der Durchbruch von Gerste als Braugetreide fiel mit dem des haltbarmachenden und (im Gegensatz zu früheren Grutkräutern) kultivierbaren Hopfens zusammen. Mit der zuvor vorherrschenden Konservierung durch Milchsäuregärung vertrug sich der Hopfen ebenso wenig wie mit dem bisher häufig verbrauten Hafer [5]. Das Gebot von 1516 ist umgeben von einer ganzen Anzahl ähnlicher, zum Teil deutlich älterer, lokal gültiger Vorschriften (zum Beispiel Nürnberg 1303, Bamberg 1315, Weimar 1348, Weißensee 1434), die den allmählichen Umstieg von milchsauren Grutbieren auf Braunbier, also gehopftes Gerstenbier, dokumentieren. Neben wirtschaftlichen Interessen der Herrschenden liegt ihnen die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit einem erschwinglichen Getränk zugrunde. Weder war die Ingolstädter Landesordnung von 1516 die erste noch die dauerhafteste derartiger Vorschriften. Und schon gar nicht war sie 500 Jahre lang unverändert gültig!

Denn schon 35 Jahre danach waren auch in Bayern laut einem herzoglichen Erlass zum Beispiel wieder Koriander und Lorbeer als weitere Zutaten bayerischer Biere erlaubt. Und 1616 werden Salz, Wacholder und Kümmel gestattet. Erst 1868 wurde in Bayern die Beschränkung auf Hopfen und Malz aus rein fiskalischen Interessen wieder gesetzlich verankert, denn nach Einführung einer Malzbesteuerung wollte man die Verwendung von Malzersatzstoffen vermeiden [6]. Von den behaupteten 500 Jahren war das übrigens erst im 20. Jahrhundert so genannte Reinheitsgebot also über weite Strecken gar nicht gültig [7]! Und jedenfalls diente es nicht, wie heute oft behauptet, ausschließlich dem edlen Zweck, die Bevölkerung vor krankmachenden Bierzusätzen von Bilsenkraut bis Tollkirsche zu schützen, sondern hauptsächlich wirtschaftlichen Interessen.

Das bayerische Reinheitsgebot von 1516 als ältestes unverändert gültiges Lebensmittelgesetz der Welt zu bezeichnen, gewissermaßen als Urknall des Verbraucherschutzes mit 500-​jähriger Kontinuität, ist nicht haltbar und nichts weiter als ziemlicher Marketingschwindel.

Was ist es dann?

Wir haben also gesehen, dass weder inhaltlich noch historisch irgendeine Kontinuität zwischen der Landesordnung von 1516 und neuzeitlichen Vorschriften besteht. Der Begriff „Reinheitsgebot” wird ohnehin erstmals im 20. Jahrhundert verwendet. Und allenfalls seit der Reichsgründung 1871 besteht eine Kontinuität in der Biersteuergesetzgebung, wonach für untergäriges Bier nur Gerstenmalz, für obergäriges Bier auch andere Malze und Zucker zulässig sind. Sinn dieser Vorschriften dürfte vor allem der Marktausschluss englischen Bieres gewesen sein [8].

Während fast des gesamten 20. Jahrhunderts haben die deutschen Brauereien hervorragend von und in dieser selbstgewählten „splendid isolation” gelebt. 2013 hat der Bayerische Brauerbund sogar die Anerkennung des Reinheitsgebots als UNESCO-Weltkulturerbe gefordert, und die von diesem Werbepopanz weichgeklopften Verbraucher glauben offenbar tatsächlich, dass es sich hierbei um ein 500 Jahre altes, weltweit einmaliges Kulturgut handelt.

Was mich daran besonders aufregt, ist die dumpfe Borniertheit vieler deutscher Biertrinker, die inzwischen selber der festen Überzeugung zu sein scheinen, dass wir in Deutschland nur aufgrund des Reinheitsgebots schon per definitionem das beste Bier der Welt hätten, während man ausländisches Bier nicht einmal mit dem Allerwertesten anzuschauen brauche. „Chemiebrühe? Belgische Kirschbrause? Pfui Teufel.”

Insgesamt scheint das Reinheitsgebot eher den Großbrauereien zu nützen, können diese doch international mit einem vermeintlichen Alleinstellungsmerkmal werben und im Inland dem Kunden suggerieren, stets ein qualitativ bestmögliches Produkt zu erwerben. Das Schlimme ist daran, dass das Reinheitsgebot damit vielen Kleinbrauereien die Möglichkeit nimmt, sich von den Großen zu differenzieren. Nicht nur dadurch, dass sie im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarn zum Beispiel keine saisonal gewürzten Sonderbiere brauen dürfen. Oder bestimmte traditionelle ausländische Bierstile wie Wit und Stout. Auch qualitativ können sie sich kaum noch abgrenzen, besteht doch die Fünf-Euro-Kiste vom Discounter, so denken viele Verbraucher, auch nur aus dem gleichen Malz, Hopfen und Wasser. Wo soll da schon ein Unterschied herkommen?

Es ist fast schon ein Wunder, wie gut diese Gehirnwäsche funktioniert hat. Dabei taugt das sogenannte Reinheitsgebot nicht einmal als Qualitätsmerkmal: Natürlich gibt es sowohl streng nach dem Reinheitsgebot gebraute, ganz abscheuliche Biere als auch gesuchte und gefeierte Spezialitäten, die mit dem Reinheitsgebot überhaupt nichts zu tun haben.

Warum lügen die Etiketten?

Dass es eindrucksvoller klingt, auf das Etikett „gebraut nach dem bayerischen Reinheitsgebot von 1516″ zu schreiben anstatt „gebraut nach dem vorläufigen Biersteuergesetz von 1993″, auch wenn die Ähnlichkeiten sehr begrenzt sind, daran haben wir uns schon gewöhnt. Als besonders ärgerlich empfinde ich es aber, wenn das 1516-Sprüchlein ausgerechnet auf Weißbierflaschen auftaucht. Wird dabei doch grob die Tatsache verkannt, dass das Gebot von 1516 primär ein Anti-Weißbier-Gesetz war, indem es nur Gerste erlaubte!

Moritz Gretzschel: Das Reinheitsgebot ist tot – lang lebe das Reinheitsgebot, Bier vor Ort, Bierreisen, Craft Beer, Reinheitsgebot
So etwas sollte eigent­lich als irre­füh­rend ver­bo­ten gehö­ren: Das 1516-​Sprüchlein aus­ge­rech­net auf einem Weißbier

Natürlich ist Weizenbier nicht schlechter als Gerstenbier, aber darauf ausgerechnet mit 1516 zu werben ist vollkommen absurd und eigentlich eine Irreführung des Verbrauchers. Die deswegen angerufene Verbraucherzentrale forderte den Marktführer daher zu einer Stellungnahme auf [9]. Vorhersehbar und völlig am Thema vorbei fiel freilich dessen Antwort aus. Zunächst schwadroniert man reflexartig in gewohnter Weise über die „fehlende Hefe”, dabei war das gar nicht Inhalt der Verbraucherbeschwerde. Und zum Weizen hat man sich eine besonders drollige Argumentation ausgedacht: Der edle Weizen sei damals den Adligen vorbehalten gewesen, deshalb erhalte der Verbraucher jetzt auch ungefragt sogar etwas noch viel Besseres!

Wenn diese Argumentation gelten sollte, warum ist dann nicht auch ein weihnachtliches Gewürzbier „getreu 1516″, denn Gewürze wurden bis ins 16. Jahrhundert mit Gold aufgewogen und wären daher noch viel edler als jegliches Getreide.

Und wie soll es weitergehen?

Viele der neuzeitlichen Regelungen erscheinen willkürlich und absurd und haben nichts mit dem Wortlaut von 1516 zu tun. Dass ausgerechnet die damals als irrelevantes Nebenprodukt erachtete Hefe darüber entscheidet, ob man andere Malze als Gerste verwenden darf, wurde als solche Absurdität schon genannt. Es gibt Fälle, in denen Brauer aufgrund der Verwendung von Weizen in untergärigem Bier verurteilt wurden. Zur Flaschengärung von obergärigem Weißbier darf aber untergärige Hefe verwendet werden. Ebenso dürfen obergäriges Weizenbier und untergäriges Gerstenbier verschnitten werden. Was hat das alles mit 1516 zu tun?

Ähnlich albern wirkende Workarounds gibt es zum Beispiel auch für die Verwendung von Milchsäure (als Sauergut aus Malz hergestellt statthaft, zugekauft verboten), Kohlensäure (Gärungskohlensäure statthaft, fossile Quellkohlensäure verboten) und Klärungsmitteln (Polyvinylpolypyrrolidon statthaft, Hausenblase und Gelatine verboten). Ohnehin haben Großbrauereien stets Mittel und Wege gefunden, sich um das Reinheitsgebot herumzuwursteln, wenn es zweckmäßig erschien, während Kleinbrauereien meist gar nicht die technologischen Möglichkeiten dazu haben. Die Liste nicht deklarierungspflichtiger Zusatzstoffe ist lang [10].

Aber eigentlich gibt es das irreführend mit dem „Reinheitsgebot” gleichgesetzte Biersteuergesetz gar nicht mehr. 1987 wurde seine Anwendung auf ausländische Biere für unvereinbar mit EU-Recht erklärt, wobei sich die deutschen Brauer dennoch verpflichteten, weiterhin danach zu brauen. 2005 wurde schließlich das vorläufige Biersteuergesetz von 1993 im Rahmen der Neuordnung des Lebensmittelrechts aufgehoben, nur die zugehörige Durchführungsverordnung ist einstweilen weiterhin gültig. Ebenfalls 2005 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass die Beschränkung deutscher Brauer aufs Reinheitsgebot als Inländerdiskriminierung deren Berufsfreiheit unzulässig einschränke, sodass für „besondere Biere” mit weiteren aromatisierenden Zutaten, solange diese keine Malzersatzstoffe sind, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen sei.

Nur in Bayern scheint man diese höchstrichterliche Rechtsprechung weiterhin zu ignorieren. Die jüngsten Beschlüsse des Bayerischen Brauerbundes [11],

  • „sich dafür einzusetzen, dass das (engere) Bayerische Reinheitsgebot erhalten und die Herstellung sog. ‚besonderer‘, also vom Reinheitsgebot abweichender Biere in Bayern auch weiterhin unzulässig bleibt,
  • die Lebensmittelüberwachungsbehörden der Länder aufzufordern, sich verbindlich und bundeseinheitlich darauf zu verständigen, welche Produkte als ‚besondere Biere‘ überhaupt genehmigungsfähig sind. Ziel ist dabei eine Beschränkung auf solche Biere, die nachweislich auf eine deutsche Brautradition vor 1906 verweisen können,
  • sich dagegen auszusprechen, durch die Verwendung anderer Bezeichnungen für Produkte, bei denen es sich augenscheinlich um Bier handelt, einer beliebigen Umgehung des Reinheitsgebotes Tür und Tor zu öffnen”,

erscheinen zunehmend wie das verzweifelte Reiten eines toten Pferdes. Wahrscheinlich versucht man krampfhaft, den liebgewonnenen 1516-Werbepopanz noch irgendwie bis zum 500-Jahre-Jubiläum über die Runden zu retten. Wie mir schon vor nächstem Jahr graut!

Wäre es nicht ehrlicher, statt sich weiter an diesen Zombie zu klammern, das sogenannte Reinheitsgebot spätestens nach der 500-Jahr-Feier sterben zu lassen und noch einmal neu aufzusetzen?

Wenn schon 1516, dann richtig!

 

Dann aber bitte im Originalwortlaut und als freiwilliges, unabhängig zertifiziertes Qualitätssiegel und keinesfalls verpflichtend. Die Erfolgsgeschichte der Campaign for Real Ale (CAMRA) in England beweist, dass die Rückbesinnung auf traditionelle Herstellungsweisen einen echten Mehrwert und die Möglichkeit zur Differenzierung gegenüber Branchenriesen bieten kann [12].

Moritz Gretzschel: Das Reinheitsgebot ist tot – lang lebe das Reinheitsgebot, Bier vor Ort, Bierreisen, Craft Beer, Reinheitsgebot
Wie auch immer es aus­se­hen oder hei­ßen mag — es wäre Zeit für ein neues, frei­wil­li­ges Reinheitsgebots-​Siegel ohne Hintertürchen

Wie könnte so ein freiwilliges „1516 Original” oder Ähnliches aussehen? Dann sollte wirklich nur mit Gerste (aber egal ob vermälzt oder nicht), Hopfen (kein Extrakt), Hefe und Wasser gebraut werden. Genmanipulierte Rohstoffe könnten ausgeschlossen oder vielleicht sogar Bio-Anbau vorgeschrieben werden. Ganz im Ursprungssinn, die von außen zuzuführenden Stoffe zu beschränken. Ob dann etwa eine Wasseraufbereitung durch Aufsalzen noch möglich wäre, sollte noch diskutiert werden. Warum eigentlich keine Rückbesinnung auf die mit lokalem Wasser möglichen Stile? Und Stabilisation und Filtration wären dann mangels Hilfsstoffen auch nicht mehr möglich. Was dank lebender Hefe in der Flasche sogar für mehr Geschmacksstabilität sorgen würde.

Biere, die sich nicht an diese sehr engen Regeln hielten, wären dann legal, sollten aber sämtliche eingesetzte Hilfsstoffe, auch die wieder abfiltrierten, strikt deklarieren müssen. Der Verbraucher hätte dann die freie Auswahl, wobei nicht unerwähnt werden sollte, dass ein Großteil sogenannter Craftbiere ohnehin schon innerhalb der „echten” 1516-Regeln gebraut wird oder problemlos gebraut werden könnte.

Bliebe die Frage, welches Gremium solch ein Siegel vergeben sollte, die Regeln definiert, durchsetzt und überwacht. Am schwierigsten dürfte es sein, eine Lobby aufzubauen, die es wagt, notfalls auch die Konfrontation mit dem übermächtigen Brauerbund einzugehen, ein Mindestmaß an öffentlicher Wahrnehmung zu erzielen (wofür aber das Jubiläum nächstes Jahr eine perfekte Chance wäre, die man nicht missen sollte!) und eine gewisse kritische Menge an hinreichend motivierten Brauereien zu versammeln, die mitspielen und das Siegel auf ihr Etikett zu drucken bereit wären. Ich bin gespannt, was die Zukunft noch bringt!

Das Reinheitsgebot ist tot, lang lebe das Reinheitsgebot!


Autor Moritz Gretzschel kam, obwohl gebürtiger Münchner, erst durch seinen Schwiegervater ausgerechnet in einer badischen Weinregion mit dem Hobbybrauen in Berührung.

Ein dreijähriger beruflicher Aufenthalt in Michigan tat das Übrige, ihn für die Craft-Brew-Bewegung zu begeistern. Seither braut er regelmäßig daheim, bevorzugt per Dekoktion. Er arbeitet als Hochschulprofessor für Maschinenbau und Elektromobilität in Aalen in Württemberg.


Quellen:
[1] Mary Shelley: Frankenstein. Fischer Taschenbuch, 2009
[2] Hans Mielich: Herzog Wilhelm IV. von Bayern auf dem Totenbett. Bayerisches Nationalmuseum, München, 1550
[3] Louis Pasteur: Études sur la bière. 1876
[4] Heinrich Letzing: Das Weißbierprivileg Herzog Wilhelms IV. von Bayern für Hans VI. von Degenberg. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte und Bibliographie des Brauwesens 1994/95, S. 343–346
[5] Franz Meußdoerffer / Martin Zarnkow: Das Bier. Eine Geschichte von Hopfen und Malz. C. H. Beck, 2014
[6] Hans-Georg Hermann: Das Reinheitsgebot 1516. Vorläufer, Konflikte, Bedeutung und Auswirkungen. Wissenschaftliches Kolloquium „Bier und Repräsentation”, 2015
[7] Conrad Seidl: Das Bier feiert Geburtstag. In: Falstaff 03/2010
[8] Günther Thömmes: Jetzt gibt es kein Bier, sondern Kölsch. Das etwas andere Lexikon vom Bier. Selbstverlag, 2005
[9] Astrid Becker: Angst vor Exotik. Süddeutsche Zeitung, 18.4.2012
[10] Markus Metzger: Das darf rein! Roh– und Zusatzstoffe des Bieres. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung, 2010
[11] Brauwelt 44/2014, S. 1294 f.
[12] http://www.camra.org.uk


Autor: Moritz Gretzschel
wiederveröffentlicht von Brau!Magazin
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Herausgebers

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