Die Zutaten: Ein winziger Kiosk und ein breiter Bürgersteig, alternativ auch der begrünte Mittelstreifen einer sechsspurigen Straße. Und ein bisschen gutes Wetter.
Das Resultat: Ein allabendliches Bierfest, das in Stimmung, Auswahl und Bierqualität mit so manchem kleinen Bierfestival in Deutschland oder Tschechien mithalten kann.
Quatsch. Gibt’s nicht!
Doch, gibt’s doch. Und zwar mitten in Rom, am Corso Trieste. Das Gradi Plato.
Ein winziges kleines Lädchen nur, eingezwängt zwischen normal großen Häusern, kaum mehr als ein Container. Gradi Plato steht in schon leicht verwitternden Buchstaben an der Front. Und bei genauerem Hinsehen merkt man: Es sind ja zwei Geschäfte in diesem kleinen Gebäude. Gradi Plato belegt also gerade mal die Hälfte dieser winzigen Fläche.
„Na, viel Auswahl kann das Lädchen dann ja nicht bieten“, regt sich der Zweifler in mir, und ich schiebe mich vorsichtig durch die Traube von jungen Menschen, die vor dem Eingang auf dem Bürgersteig steht. Ich äuge nach links und rechts, versuche, zu erspähen, was denn wohl getrunken wird, aber die Kunststoffbecher geben wenig Rückschlüsse auf ihren Inhalt. Verschiedene Farbtöne sind es, also ein halbes bis ein Dutzend verschiedene Biere wird es wohl mindestens geben.
„Happiness begins with a good beer!“, begrüßt mich ein Schild, als ich am Eingang des kleinen Lädchens angekommen bin. Davor ein Mülleimer für die Plastikbecher, an der Wand ein fest installierter Flaschenöffner. Der schmale Eingang ist blockiert von wartenden, durstigen Kunden. Ab und an kommt jemand aus dem Lädchen raus, öffnet mit routinierter Bewegung die gerade gekaufte Bierflasche, der Kronkorken fällt in den kleinen Sammelbehälter unter dem Öffner, und wenn die Person mit ihrer Flasche und dem Becher auf den Bürgersteig hinaus geht, rückt die Schlange der Wartenden wieder einen Schritt vor.
Nach ein paar Minuten stehe ich im Türrahmen und blicke die kleine Treppe hinunter. Ein winziger Raum. Mittendrin eine Theke, dahinter, in der Enge, zwei junge Männer. Der Rest ist voller Regale und Kühlschränke. Gerade einmal drei Kunden passen gleichzeitig in den Laden, aber dann steht auch einer der drei noch auf den Eingangsstufen.
Die Regale bieten, schön sortiert, eine Auswahl von, nein, nicht einem Dutzend, auch nicht mehreren Dutzend, sondern bestimmt hundert Bieren und mehr. Aus aller Herren Länder, die unterschiedlichsten Bierstile, kleine und große Flaschen. Einige berühmte Marken sind darunter, ein paar klassische deutsche Regionalbiere, aber auch sooo viele unbekannte Biere, von denen ich weder den Namen noch die Brauerei je vorher gehört habe. Faszinierend, wie auf so engen Raum so viel Vielfalt untergebracht werden kann.
„Aber, die Biere sind doch alle warm?“, denke ich. „Zum Trinken vor der Tür gibt es dann nur das, was in den Kühlschränken steht.“ Ich trete vor den ersten Kühlschrank. Ein Schild auf der Tür: Bitte nicht öffnen. Dahinter, durch die Glasscheibe gut sichtbar, ein völliges Durcheinander. Zig Biersorten, bunt gemischt. Von den vorderen Reihen kann man zum Teil die Etiketten erkennen, manchmal stehen die Flaschen aber auch verkehrt herum. Und was sich in den Reihen dahinter verbirgt, bleibt ein Geheimnis. Wie soll ich hier ein Bier aussuchen können?
Ich bin an der Reihe und deute unschlüssig auf den Kühlschrank. „How can I find my favourite beer in this chaos?“, frage ich, und ernte ein breites Grinsen. „Nee, das geht anders”, bedeutet mir der junge Mann. „Du suchst Dir im Regal ein Bier aus und nimmst die Flasche oder zeigst sie mir, wenn Du nicht drankommst. Und dann nehme ich die warme Flasche und tausche sie gegen eine kalte aus dem Kühlschrank!“
Na gut. Ich deute auf eine Flasche American India Pale Ale von Canediguerra. Er schlängelt sich hinter der Theke hervor, angelt die Flasche aus dem Regal, zwängt sich zum Kühlschrank, öffnet zielsicher eine der Türen, greift mit dem linken Arm ein halbes Dutzend Flaschen, die ihm sowieso schon fast entgegenfallen, und mit einer geschickten Bewegung zieht er aus der letzten Reihe eine kalte Flasche Canediguerra American IPA hervor, tauscht sie gegen die warme Flasche, schiebt die anderen Flaschen wieder an ihren Platz zurück und drückt mir das kalte Bier in die Hand. Keine zehn Sekunden hat die ganze Aktion gedauert.
„Ist der Kühlschrankinhalt irgendwie sortiert?“, staune ich. „Ich habe kein System finden können.“ – „No, no, no“, schüttelt er den Kopf. „Überhaupt nicht. Ist alles Routine. Wir wissen beide, wo was steht, und finden das blind!“, lautet die überraschende Antwort.
Ein zweites Bier für meine holde Ehefrau, die draußen steht und wartet. Ein Bulk Porter von Hammer. Das Zehn-Sekunden-Schauspiel wiederholt sich. Mein Herz setzt fast aus, als ich sehe, wie beim Öffnen der Kühlschranktür die ersten Flaschen nach außen kippen, aber ein leichter Druck mit der linken Schulter, dann erneut das Festhalten von fünf oder sechs Flaschen, die im Weg stehen, der einhändige Tausch warm gegen kalt – alles ist hundertfach geübte Routine. „Wie oft fallen Dir dabei denn Flaschen auf den Boden?“, frage ich provokativ-neugierig. „Gar nicht. Alles eine Sache der Übung“, kommt die lakonische Antwort.
Ich zahle, greife mir zwei Plastikbecher und schiebe mich an den beiden anderen Kunden, die im Lädchen Platz finden, vorbei. Draußen der Griff zum Öffner. Etwas weniger routiniert als bei den Stammgästen. Es dauert einen Moment, bis ich beide Flaschen offen habe. Ich ernte ungeduldige, aber freundliche Blicke: „Kuckt mal, hier ist ein Neuer!“
Wieder auf der Straße, blicke ich mich um. Meiner holden Ehefrau ist es gelungen, auf einer der beiden Sitzbänke auf dem Grünstreifen einen Platz zu ergattern. Ich gehe vorsichtig über den Zebrastreifen, wir setzen uns und genießen die beiden Biere.
Der Grünstreifen ist zum Biergarten umfunktioniert. Ein paar leere Bierkisten stehen hier, da kommt das Leergut rein. Ab und an kommt jemand vorbei, bringt die Flaschen zum nahen Altglascontainer zur Entsorgung und bringt die leeren Träger zurück. Daneben eine große Tonne, nur für die Plastikbecher, und – natürlich – ein ganz normaler Mülleimer.
Obwohl hier bestimmt hundert Leute auf dem Bürgersteig und dem Grünstreifen stehen, sitzen und liegen, es ist trotzdem alles sauber. Offensichtlich wissen wohl alle, dass dieses kleine, tägliche Bierfestival sofort ein Ende finden würde, wenn hier das Chaos Einzug hielte. Die Autofahrer kennen es wohl auch alle, denn so rücksichtsvoll wie hier fährt der Römer normalerweise nicht an einen Zebrastreifen heran. Aber es funktioniert. Die Biertrinker gehen vorsichtig über und nicht neben den Zebrastreifen, und die Autos halten tatsächlich an. Eine seit Jahren eingeübte Routine, und nur ab und an kommt mal jemand Neues am Steuer vorbei, erkennbar daran, dass er oder sie sichtlich nervös auf die Menschen mit den Bierbechern in der Hand reagiert, extrem langsam fährt und sich den Hals verrenkt, was denn vor diesem winzigen Kiosk für eine Menschenmenge steht.
Wir geben unseren Platz auf der Parkbank nicht auf, und beobachten, wie die Menschentraube weiter wächst. Links und rechts vom Kiosk stehen die jungen Leute jeweils auf hundert Metern, und auch auf dem Grünstreifen werden es mehr und mehr. Aber es bleibt ruhig und friedlich. Stimmengewirr, aber keine Randale, kein Gesang, kein übermütiges Herumtollen. Na klar, man steht mittlerweile auch ein wenig auf der Straße und die Autos müssen nun noch vorsichtiger fahren, aber es geht alles. Unaufgeregt. Im Mittelpunkt stehen der Biergenuss und die Unterhaltung.
Noch ein paar Mal quetsche ich mich in das winzige Lädchen, hole noch ein Strike American Pale Ale von Mezzo Passo, ein Daarbulah Imperial Stout von Hammer und ein Verdi Imperial Stout mit Chillis von Birrificio del Ducato. Und staune jedes Mal wieder über die Akrobatik am Bierkühlschrank. Und darüber, wie ein winziger Bierkiosk ein immerwährendes Bierfestival zu begründen vermag.
Der kleine Kiosk Gradi Plato existiert seit rund zehn Jahren. Er ist täglich von 16:30 Uhr bis Mitternacht geöffnet; kein Ruhetag. Und von montags bis sonnabends gibt es auch ein Mittagsbier, von 11:30 bis 13:30 Uhr. Die Anwohner scheinen sich daran gewöhnt zu haben, und es geht alles wunderbar friedlich zu. Zu erreichen ist der Kiosk entweder mit der Metro, etwa 400 m von der Station San Agnese / Annibaliano der blauen Linie entfernt, oder mit dem Bus, Linien 38, 88 und 89, Haltestelle Trieste / Bellinzona, schräg gegenüber.
Gradi Plato
Corso Trieste 113
00156 Roma
Italien
Hinterlasse jetzt einen Kommentar