Jeder, der schon einmal in Belgien war und sich ein wenig mit der dortigen Bierszene beschäftigt hat, kennt den rosa Elefanten. Die Brouwerij Huyghe hat ihn erfunden. Beziehungsweise, nicht wirklich erfunden, denn die Vorstellung, dass, wenn ein Trinker ins alkoholbedingte Delirium Tremens fällt, er dann rosa Elefanten sieht, geisterte als geflügeltes Wort schon immer durch die Stammtischdiskussionen der Welt.
Aber es war genau diese Geschichte, die die Brauerei aufgriff, als sie 1989 ein sehr alkoholstarkes Bier unter dem Namen Delirium Tremens auf den Markt brachte und den rosa Elefanten zum Logo dieses Biers machte.
Nun könnte man meinen, dass es bei dieser Kreation und diesem Namen in der Tat nur darum gegangen wäre, ein möglichst alkoholstarkes und dementsprechend wirksames Bier für selbsternannte Kampftrinker und andere Spätpubertäre zu lancieren, aber dem war nicht so. Im Gegenteil: Trotz der Namens erwies sich Delirium Tremens als ein sehr ausbalanciertes und gut trinkbares Genussbier, das 1997 als bestes Bier der Welt benannt und 1998 mit einer Goldmedaille auf den World Beer Championships in Chicago ausgezeichnet wurde.
Seitdem hat der rosa Elefant eine erfolgreiche Karriere hingelegt. Er ziert mittlerweile eine ganze Serie hocharomatischer und hochalkoholischer Biere der Brouwerij Huyghe, und er ist Wappentier für mehrere Biercafés, allen voran das Delirium Café in Brüssel, das mit über 2000 verschiedenen angebotenen Bieren in das Guinness Buch der Rekorde eingetragen worden ist.
Das Konzept in Brüssel in der kleinen Gasse unweit vom Grote Markt war so erfolgreich, dass es als Blaupause für weitere Biercafés dient, die gemeinsam geführt und beworben werden, und das mittlerweile weit über die Grenzen Belgiens hinaus.
Und so stehe ich nun in Nancy – zugegebenermaßen nicht dermaßen weit über die Grenzen Belgiens hinaus, aber doch schon ein gutes Stück – auf dem gut befahrenen Boulevard Joffre und blicke auf das Little Delirium Café und eine Reihe von kleinen, rosa Elefanten.
Viel los ist dort nicht, aber vielleicht ist der frühe Nachmittag an einem Sonnabend im Advent auch nicht gerade die beste Zeit, um hier einzukehren. Jedoch: Mein Zeitplan will es so.
So betrete ich dann die Bar und blicke auf eine endlose Reihe von Zapfhähnen. Die Taphandles bestehen aus schlichtem, grauen Plastik, darauf jeweils ein rosa Elefant. Und davor das Logo des an diesem Zapfhahn angebotenen Biers. Einzig ein riesiger Holzprügel mit dem Logo der japanischen Kiuchi Brauerei mit ihrer Marke Hitachino Nest unterbricht diese einförmige Reihe. Über der Zapfhahnbatterie hängen schwarze Tafeln und bewerben die Fassbiere – und auch hier herrscht eine gewisse Einförmigkeit: Schwere, alkoholstarke belgische Biere, die ersten vier davon aus der Delirium-Serie, dominieren das Angebot, das Hitachino Nest und … Weihenstephaner Weißbier machen die einzigen Ausnahmen.
Ich kann mir Zeit nehmen, um meine Wahl zu treffen. Außer mir befinden sich lediglich vier junge Leute an einem kleinen Tisch in der Ecke, und die hübsche, blonde Barfrau kann geduldig abwarten, hat eher Langeweile denn Stress. Ich entscheide mich für das Delirium Argentum, ein bernsteinfarbenes India Pale Ale mit gerade einmal 7,0% Alkohol, also für ein Delirium-Bier ungewöhnlich schwach.
Blitzschnell bekomme ich es gezapft und darf mich an der interessanten und spannenden Kombination fruchtig-herber Hopfenaromen mit ebenfalls fruchtigen, aber in eine ganz andere Richtung tendierenden Esteraromen der verwendeten belgischen Hefe erfreuen. Dazu ein runder Malzkörper, und das Resultat ist ein sehr komplexes, spannendes Bier, das es verdient, in kleinen Schlucken bewusst genossen zu werden.
Eine ganze Weile sitze ich hier, genieße das Argentum, entspanne ein wenig und lasse die Gedanken auf Wanderschaft gehen. Am Tisch in der Ecke unterhalten sich die jungen Leute leise, die Barfrau steht geduldig hinter der Theke. Die einzige Abwechslung in vielleicht einer Stunde ist eine alte Oma, die mit ihrem Rollator ganz langsam hereinkommt, sich eine heiße Schokolade bestellt – ja, auch das gibt es hier – und nach ruhigem, entspanntem Genuss langsam wieder weiter tippelt.
Ich versuche, mir auszumalen, wieviel Leben hier herrscht, wenn abends alle Tische voll sind, wenn sich die Gäste an der Theke ballen, das Bier in Strömen fließt und sich nicht mehr nur ganz leise unterhalten wird. Der Bär wird los sein!
Dennoch: Ich bin froh, dass bereits am Nachmittag geöffnet ist. Auch wenn es sich für den Betreiber wirtschaftlich vielleicht nicht rechnen mag, wer weiß, aber die ruhige, entspannende Atmosphäre und der ungeteilte Biergenuss, das hat etwas. Mir jedenfalls gefällt es.
Das Little Delirium Café in Nancy ist täglich ab 10:00 Uhr durchgehend geöffnet; sonntags ist Ruhetag. Zu erreichen ist es bequem mit der Bahn oder dem Bus, der Hauptbahnhof ist gerade einmal 100 m entfernt, oder man nutzt die Gelegenheit und fährt mit dem spurgebundenen Oberleitungsbus, einem Zwitter aus Straßenbahn und Bus, wie es ihn weltweit nur ein einziges Mal hier in Nancy gibt.
Little Delirium Café
13-15 Boulevard Joffre
54000 Nancy
Frankreich
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