Überall in Europa ist Craft Bier ein großer Erfolg. Die Menschen finden wieder Geschmack an ausdrucksvollen, charakterstarken Bieren, die individuell schmecken und nicht wie die sogenannten Fernsehbiere bis auf den kleinsten gemeinsamen Geschmacksnenner geglättet und aller Ecken und Kanten beraubt sind. Und im gleichen Maße, wie neue Brauereien entstehen oder alte anfangen, mit neuen Stilen oder neuen Zutaten, wenigstens aber mit Abwandlungen der alten Zutaten, zu experimentieren, entstehen überall auch Bierbars, in denen der besondere Geschmack gepflegt wird.
Manche dieser Bierbars prunken mit einem Dutzend Zapfhähnen, ihrer zwanzig, fünfzig gar, oder wie das PiwPaw Beer Heaven in Warschau mit rund hundert. Andere spezialisieren sich auf eine hohe Zahl unterschiedlicher Fassbiere, und wieder andere bieten eine kleine, aber sorgfältig zusammengestellte, qualitativ hochwertige Auswahl. Und – natürlich! – die Atmosphäre muss stimmen.
Aber was ist das, Atmosphäre? Ist es edles Design? Post-Industrial Style? Bewusstes Verlotternlassen der Einrichtung? Das besondere, weil einzigartig gemischte Publikum? Hier gibt es keinen gemeinsamen Nenner, und so ist das Erkunden von Bierbars immer aufs Neue aufregend und spannend.
Die Vest Pilsētas Bārs in Rīga beispielsweise bietet gutes Craft Bier, aber sie tut es nur für den, der weiß, dass es das hier gibt, und deshalb danach fragt. Mike Perdue, der Eigentümer des Bottleshops Callous Alus / Beerfox hat mir den Tipp gegeben, die Stabu Straße bis ganz an ihr anderes Ende hinunter zu laufen und in dieser Bar einmal einzukehren. Und so stehe ich denn am 21. August 2015 vor der Vest Pilsētas Bārs. Eine hellgraue Holzkonstruktion als Vordach, darunter ein paar Tische und ein leuchtend grün lackiertes Motorrad mit der Aufschrift Vest.
Ich betrete die Bar, lasse einmal meinen Blick durch den Schankraum mit seinen einfachen Holzmöbeln wandern und gehe zur Theke. „Was für Biere habt Ihr denn vom Fass“, lautet meine unschuldige Frage, und als Ergänzung schiebe ich hinterher, Mike vom Callous Alus habe mich hierher geschickt.
Als der Name Callous Alus fällt, verändert sich der Blick von Ingemārs Dzenis, dem Co-Eigner der Vest Pilsētas Bārs. Wollte er eben noch einfach schnell die Namen der Biere am Zapfhahn herunterleiern, schaut er mich jetzt an und zögert ein wenig. „Also, die Biere am Hahn sind gut, aber es sind keine Craftbiere. Wenn Du besonderen Geschmack möchtest, dann musst Du bei den Flaschenbieren schauen.“ Er öffnet die Tür zum Kühlschrank und zeigt mir eine imposante Auswahl von Craftbieren aus der Region, aus dem ganzen Baltikum. Ich entscheide mich für eine Flasche Malduguns Zaļā Bise, ein Single Hop IPA, diesmal mit El Dorado Hopfen gebraut.
Eine gute Wahl. Ingemārs klopft mir auf die Schulter. Beim zweiten Bier, dem Alus Daritava Viedi Rodeo, ebenfalls ein ausgezeichnetes und wunderbar hopfenaromatisches Bier, kommen wir ein wenig ins Gespräch. Wenige Monate ist die Bar erst eröffnet, aber sie erfreut sich einer großen Beliebtheit. Ja, aber warum denn die Standardbiere vom Fass, und die guten, aromatischen Biere nur aus der Flasche? will ich von Ingemārs wissen. Er windet sich ein bisschen, rückt dann aber mit der Wahrheit raus. Das Eigenkapital habe nicht ganz für die Bar gereicht, und so seien sie einen Vertrag mit der Brauerei eingegangen. Als Gegenleistung für die finanzielle Unterstützung bei der Einrichtung müssten sie nun für mindestens ein Jahr die Biere der Brauerei am Hahn haben. Ein Jahr nur? Ich werde fast ein wenig neidisch – die Knebelverträge deutscher Brauereien laufen gefühlte Jahrzehnte und verhindern in so vielen Bars und Restaurants ein gutes Bierangebot.
Mittlerweile ist mein Essen gekommen – ein leckerer Burger mit Salat und Kartoffelspalten, serviert von einer jungen Aushilfskellnerin mit den wohl strahlendsten Augen, die ich seit Jahren gesehen habe. Da schmeckt es doch gleich noch mal so gut.
Während ich der bezaubernden jungen Dame hinterhersehe, erblicke ich ein Alleinstellungsmerkmal der Vest Pilsētas Bārs, etwas, das ich noch in keiner anderen Craft-Bier-Bar bisher gesehen habe, und etwas, von dem Ingemārs eben auch nichts erzählt hat: Hier gibt es einen eigenen Friseur! Im Barbershop „Knockout“ können sich die Gäste von hübschen Friseusen die wildesten Hipster-Frisuren schneiden lassen. Böses Kopfkino läuft vor meinen inneren Augen ab, und ich sehe sie, die angetrunkenen Spätpubertierenden, die mutig geworden vom Alkohol die wildesten Frisuren verlangen und am nächsten Morgen beim Blick in den Spiegel schlagartig ihren Hangover vergessen. Ich muss laut lachen, und das Pärchen am Nachbartisch schaut mich irritiert an.
Später am Abend treffe ich Ingemārs noch einmal bei der Verkostung des Biers The Baltic Way im Callous Alus, und er erzählt mir, dass es nicht nur bei dem Friseur bliebe, sondern dass in Kürze auch noch ein Tätowierstudio dazu kommen wird. Da wird der Katzenjammer nach der durchzechten Nacht wohl noch größer werden. Eine im Suff georderte übermütige Frisur wächst sich in wenigen Wochen aus, aber ein spontanes Tattoo bleibt für immer …
Die Vest Pilsētas Bārs ist täglich von morgens 08:00 Uhr bis tief in die Nacht durchgehend geöffnet, nur sonnabends und sonntags beginnt der Ausschank „erst“ um 11:00 Uhr. Neben Craft-Bier gibt es gutes Essen, einen Frisör, eine Motorrad-Werkstatt und bald auch ein Tattoo-Studio. Zu erreichen ist die Bar in etwa 15 Minuten zu Fuß von der Altstadt Rīgas.
Vest Pilsētas Bārs
Stabu Iela 1
1010 Rīga
Lettland
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