Vierzehn Jahre ist es her (2004), dass dieses Buch zum ersten Mal erschien, sechs Jahre (2012), dass die Neuauflage auf den Markt kam, und jetzt erst (2018) habe ich es zum ersten Mal gelesen. Ein recht kleines Bändchen ist es nur, wenig mehr als 200 Seiten dick.
Kann man an einem oder zwei bierseligen Abenden mal nebenbei lesen. Bequem im spießigen Wohnzimmersessel, die Beine hochgelegt, das Bier rechter Hand in bequemer Griffweite. Leise Musik dazu oder auch nicht, und aus der Ferne klappert das Geschirr der in der Küche emsig wirtschaftenden holden Ehefrau.
Könnte man meinen.
Klappt aber nicht. Erstens, weil die Stereotype vom Gelsenkirchener Barockwohnzimmer und der in die Küche verdammten Hausfrau bei uns nicht funktioniert, und zweitens, tja, zweitens, weil sich 200 Seiten als so randvoll mit wunderbaren Schilderungen, brillanter Erzählkunst und messerscharfer Kritik des Bierestablishments gefüllt erweisen, dass allein der Versuch, das Buch in einem Rutsch zu lesen, zum Scheitern verurteilt ist.
Michael Rudolf versteht es, auf dem Klavier der Sprache zu spielen und seine bierigen Botschaften so zu verpacken, dass man jedes Kapitel zunächst einmal diagonal liest, sich freut, dann zurückspringt, an der einen oder anderen Formulierung hängen bleibt („Wie hat er das denn jetzt gemeint?“) und dann selbstdiszipliniert das Kapitel noch einmal Wort für Wort genießt.
Es geht um Bier. Klar. Das geht aus dem Titel des Buchs hervor, und wer das Wortspiel mit dem Pilsener Urquell nicht auf Anhieb versteht, dem sticht immerhin die schwarzgraue Silhouette des Maurerstubbies ins Auge, Sinnbild hunderter, nein, tausender, ach, was rede ich, Millionen von achtlos, achtsam, aufmerksam oder ganz nebenbei getrunkener Alltagsbiere. Dahinter, in grellem Orange, Gelb und Weiß ein stilisierter Urknall. Bier, ein wahrhaft explosives Thema.
Aber es ist nicht eines der ermüdend gleichförmigen Bücher über Bier, in denen sich Seite an Seite reiht, immer wieder nach dem gleichen Muster: Foto einer Bierflasche, einer Bierdose oder eines mehr oder weniger gut eingeschenkten Glases, dazu ein paar tabellarische Informationen, ab und an ein paar bierige Weisheiten eingestreut, die entweder zum Allgemeinwissen gehören und eh bekannt sind, oder sich bei näherem Hinsehen als Urban Legends entpuppen, und im einleitenden Kapitel ein geschichtlicher Rückblick auf die Braukunst der alten Mesopotamier und eine vergötternde Abhandlung über das sogenannte „Reinheitsgebot“. Keines der Bücher also, von denen ich schon reichlich im Regal stehen habe, und die auch immer mal wieder auf dem Grabbeltisch im Supermarkt feilgeboten werden, zu einem Preis, für den man nicht einmal eine wirklich gute Flasche Bier bekommt.
Nein, es ist einfach nur Text. Kaum Bilder, und wenn, dann in, der Verlag möge es mir verzeihen, deutlich verbesserungswürdiger Schwarzweißqualität. Das Wort zum Bier ist es, dass hier die Hauptrolle spielt. Den Leser in den Bann schlägt, ihn nicht wieder loslässt und ihn mitnimmt auf einen mentalen Kreuzzug gegen etablierte Industriebrauereien. Ihm die Geheimnisse der wahren Braukunst vorführt, ohne selbige völlig zu offenbaren. Und ihm, gleichsam nebenbei, die eine oder andere Gesellschaftskritik schonungslos um die Ohren haut.
Genussvoll keilt Michael Rudolf aus: „Eine kurze Testbilanz (…) ist erschütternd und fordert den Gebrauch von Schimpfworten geradezu heraus: Warsteiner, Krombacher, Henninger, Beck’s, Binding, Holsten, Diebels, Feldschlößchen, Jever, Paulaner, Licher, Tucher, König, Schulheiss – die Geschmacksvermeidung der Designerbiere hat viele Namen.“ Er spricht von der „Deliktpalette des organisierten Erbrechens“, von „pfannengeführten Retortensorten“ und von „Junkbeer mit mehligem Gout“.
Und genauso genussvoll kommt er ins Schwärmen, wenn ein Bier „brilliert mit gutem, reichlichem Schaum. (…) Die feine Trübung passt gut zur fruchtig-lieblichen Säure, die Bittere scheint nur angedeutet und garantiert einen süffig-leichten Gesamteindruck. Ein ‚Reintrinkbier‘, also mit immanenter Aufforderung zum Weitertrinken.“
Michael Rudolf beschränkt sich aber bei Weitem nicht auf die Beschreibung seiner Geruchs- und Geschmackserlebnisse, sondern beglückt mit einer Einführung in den Brauprozess, konsequent im Stil der Sendung mit der Maus, schreckt ab mit dem Bericht einer Brauerei-„Besichtigung“ beim Tucher in Fürth und vergrätzt die Szene der Hobbybrauer mit messerscharfer, organoleptischer Kritik der resultierenden Produkte. Geradezu post-orgiastisch setzt er einen grandiosen Schlusspunkt im letzten Kapitel „No Sleep ‘til Nankendorf“. Nur an einem scheitert er: An den verbindlichen Ratschlägen, den ewigen Streit Kölsch vs. Altbier zu schlichten. Das gleichnamige Kapitel bleibt leer. Einsam hängt die Überschrift über der leeren Seite und grämt sich.
Bierlektüre vom Feinsten. Unterhaltsam, kurzweilig, aber niemals oberflächlich.
Michael Rudolf
Der Pilsener Urknall
Expeditionen ins Bierreich
Oktober Verlag
Münster, 2012
ISBN 978-3-941895-20-1
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