Ich schreibe heute einfach mal über einen Schallplattenladen. Einen Laden, wie ich ihn noch aus meiner Jugend kenne, damals, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger. Regale und Schubladen voller Vinyl-LPs. Jede Menge skurrile Typen, die in den nach Themen sortierten Fächern blättern und auf der Suche nach Raritäten sind. Am besten nach DER einen Rarität überhaupt. Eine Bootleg-Pressung eines illegalen Mitschnitts eines Livekonzerts der Lieblingsband auf dem Dorffestival in Niederhinterkatenheide, auf dem Feld gleich hinter dem Bundeswehrgelände, zum Beispiel.
Solche Raritäten fand ich natürlich nie; ich war dann schon froh, die erste Platte von Motörhead noch vor meinem Klassenkameraden entdeckt zu haben, der sonst immer der erste war, alles, aber auch wirklich alles von Hawkwind und deren ehemaligen und temporären Bandmitgliedern aufzutreiben.
Stolz trug ich die Platte mit dem schwarzen Cover, auf dem Snaggletooth, der Totenschädel mit Stahlhelm, Hauern und Ketten, abgebildet war, nachhause, verzog mich in mein Zimmer und dröhnte mir (und den Nachbarn) die Ohren zu, bis irgendwann meine Eltern die Sicherung für mein Zimmer rausdrehten…
Vierzig Jahre ist das her, und ich fühle mich in diese Zeit versetzt, als ich die Apollon Platebar in Bergen betrete. Kisten, Kartons, Schubladen und Regale voller Vinyl. Merkwürdig gekleidete Typen, exzentrische Einzelgänger genauso wie partygeile Herdentiere, stehen herum und blättern auf der Suche nach Raritäten durch die Alben. Ich setze mich mitten hinein an die Theke und studiere die ellenlange Bierliste, die, guter Tradition folgend, mit Kreide auf einer großen schwarzen Tafel verzeichnet ist.
Bierliste?
Nun ja, das gab es vor vierzig Jahren eben noch nicht. Zwar konnte man in manchen Plattenläden schon mal einen TGFOP Darjeeling bekommen oder einen unfermentierten japanischen Tee, aber dass es mitten zwischen den Vinyl-Alben eine Biertheke mit über 30 Biersorten gegeben hätte – nein, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Und so ist die Apollon Platebar Ziel einer Zeit- und einer Bierreise zugleich.
Ich bestelle mir ein Belgian IPA von Partizan Brewing, sehe dem Barmann zu, wie er es zapft, und sinniere den Jahrzehnten hinterher. Belgian IPA? Den Bierstil gab es damals gar nicht. Belgiens Bierszene, die wir heute so bewundern, war seinerzeit kurz vor dem Aussterben – auch dort hatten mit Stella Artois und Jupiler die großen Konzerne Fuß gefasst, und es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis Michael Jackson (der richtige Michael Jackson, also der Bier-Autor, The Beer Hunter, nicht die singende Hupfdohle) mit seinen Büchern und Filmen die Aufmerksamkeit der biertrinkenden Welt auf diese bedrohte Braukultur lenkte. Auch IPAs, India Pale Ales, die wir heute als ubiquitär und selbstverständlich ansehen, gab es fast nirgends. Nur in Großbritannien, England zumal, hatten ein paar Brauereien noch an diesem Bierstil festgehalten, um neben Mild und Bitter, Porter und Stout, auch etwas anderes anbieten zu können.
Aber die Kombination aus beiden Bierkulturen, also ein IPA, das mit belgischer Hefe so gebraut wird, dass sich Malzkörper und Hopfenherbe mit phenolischer Hefecharakteristik paaren? Nein, das gab es seinerzeit ganz gewiss nicht – das ist eine Neuschöpfung unserer Zeit.
Ich betrachte das Glas vor mir. 5,2% hat das Bier und einen schönen, komplexen Geschmack, bei dem alle drei Hauptzutaten des Biers miteinander um Dominanz ringen.
Ringen tut auch der eine oder andere Gast. Und zwar darum, ob er sein Geld nun noch in ein weiteres Bier oder doch lieber in ein schönes altes Vinyl-Album investieren soll.
Überall im Raum stehen Tische, Stühle und Bänke, und wer zur Theke oder an die Kasse kommt, blättert auf dem Wege einmal schnell durch die Kiste mit den noch unsortierten Neuzugängen, hält kurz inne, träumt von fast vergessenen Gitarrenriffs und endlosen Schlagzeugsoli und wendet sich dann der Bierliste zu, um ein zu den Akkorden von damals passendes Bier zu finden.
Tja, denke ich mir, da habe ich eben wohl versagt. Beer-and-Music-Pairing scheint meine Sache nicht zu sein. Zu Lost Johnny, Vibrator oder Motörhead hätte wohl eher ein knallbitteres, neuzeitliches Imperial IPA gepasst als das Belgian IPA. So etwas wie der Arrogant Bastard von Stone Brewing, und der merkwürdige Wasserspeier Gargoyle, den Stone als Brauereiwappen führt, hätte auch optisch ganz gut zum Snaggletooth Motörheads gepasst…
„Sag mal, Du trinkst ja gar nicht“, höre ich die Stimme meiner holden Ehefrau, die neben mir sitzt. „Ist was mit Dir?“
„Ach, nein“, erwidere ich, mit den Gedanken noch ganz woanders. „Ich war nur gerade auf einer Zeitreise durch die Jahrzehnte. Mit den ‚Masters of the Universe‘ in der ‚Hall of the Mountain Grill‘, und ich bin auf meinem ‚Iron Horse‘ zurückgeritten in die ‚Time We Left This World Today‘. Weißt Du, ‚Space is Deep, it is so Endless‘, da braucht man einfach einen ‚Orgone Accumulator‘.”
Kopfschüttelnd schaut sie mich an: „Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt ein bisschen an die frische Luft gehen“, sagt sie und nimmt mich bei der Hand.
Die Apollon Platebar in Bergen kombiniert Vinyl-Nostalgie und Kreativbiere in perfekter Weise. Sie ist täglich ab 10:00 Uhr bis nach Mitternacht geöffnet; sonntags erst ab 12:00 Uhr. Kein Ruhetag. Sie liegt nur ein paar Schritte südwestlich des Lille Lungegårdsvannet, und ist mit den Bybanen problemlos zu erreichen – von der Endstation Byparken nur drei Minuten zu Fuß in Richtung Süden.
Apollon Platebar
Nygårdsgaten 2A
5015 Bergen
Norwegen
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