Stundenlang könnte ich am Rand der Niagara-Fälle stehen und zusehen, wie das eben noch ruhig und gleichmäßig dahinfließende Wasser sich tosend in den Abgrund stürzt. Aber es ist Juli. Ferienzeit und Hochsommer. Menschenmassen. Ständig schieben sich irgendwelche Personen rücksichtslos zwischen die anderen, denen es gar nicht darum geht, die Naturschönheit zu bewundern, sondern ausschließlich darum, ihre Anwesenheit durch ein schnelles Selfie zu dokumentieren und dann rasch weiter zu ziehen. Viele drehen sich nicht einmal um, schauen gar nicht in den Abgrund, sondern suchen sich nur schnell ein Plätzchen an der Mauer, drehen dem Wasserfall den Rücken zu, ein schnelles „Klick“ … und weiter geht’s.
Sind es diese Touristen, für die sich das kleine Städtchen Niagara Falls in einen gewaltigen Vergnügungspark verwandelt hat? Längst sind es nicht nur die Bootsfahrt in die Gischt der Wasserfälle, die beschauliche Fahrt mit der Funicular oder der rasante Ritt mit der Zipline hinunter zum Wasser, die als Attraktionen gelten – nein, nur wenige Schritte weiter besteht ein ganzes Stadtviertel aus Kneipen, Bars, Casinos, Geisterbahnen, Rollercoastern und was der Vergnügungsindustrie noch alles einfällt. Bunt blinkende Lichter, laute Musik, dichtes Gedränge auf den Gehsteigen.
Mittendrin sehe ich auf einer Art Balkon zwei Gärtanks stehen. Edelstahl-ZKGs. Ein etwas größerer, ein etwas kleinerer. Wie Geschwister stehen sie auf dem kleinen Balkon hinter einem Geländer, als ob ein Heimbrauer in seinem winzigen Appartement keinen Platz mehr für sein Equipment hätte.
In gewisser Weise ist das auch so, denn hinter der „Balkontür“ befindet sich der Taproom der Niagara Brewing Company, einer Brauerei mittendrin im Vergnügungsviertel der Stadt.
Ich betrete den unteren Schankraum, und er ist am frühen Nachmittag – wir haben gerade erst halb drei – gut gefüllt. Hinten sehe ich das Sudwerk, davor aber lauter besetzte Tische. Ob ich etwas essen wolle, fragt mich eine junge Dame, und nach meinem Nicken schickt sie mich nach oben. „Oben im Taproom ist noch etwas Platz. Hier unten ist im Moment alles voll.“
Brav laufe ich die Treppe nach oben, komme an ein paar KEGs vorbei, die die Treppe zieren, und dann stehe ich im Taproom. Linker Hand eine ganze Reihe von Edelstahl-ZKGs, jeder einzelne mit einer Schiefertafel, auf der mit Kreide der Bierstil notiert ist – aber nicht nur einfach hingeschrieben, sondern nett verziert und mit bunten Zeichnungen dekoriert. In der Tat, in dieser Reihe ist kein Platz mehr für zusätzliche Tanks, und so scheint es, als seien die beiden auf dem Balkon draußen platzierten ZKGs später hinzugekommen und ausgelagert worden.
Kaum habe ich mir einen Platz gesucht, werde ich schon nach meinen Bierwünschen gefragt, und Augenblicke später steht ein doppeltes Testbrettchen vor mir. Acht verschiedene Biere in zwei Viererflights. Dazu ein Teller mit Chicken Wings und Fritten. Das wird mich jetzt ein Weilchen beschäftigen.
Mit Blick auf die Gär- und Lagertanks mache ich mich ans Werk, verkoste die Biere und genieße das simple, aber ganz gut schmeckende Essen.
Ich beginne mit dem Wheat, einem einfachen, gut durchtrinkbaren Weizenbier, das erfrischend und spritzig ist, aber den typischen Weißbiercharakter vermissen lässt. Nur ein paar ganz entfernte Gewürznelkenaromen glaube ich, zu erschmecken. Das Cream Ale unmittelbar danach gefällt mir schon besser. Es macht seinem Namen alle Ehre, ist weich, samtig und geradezu kremig. Fein!
Einen kleinen Moment Pause, dann geht es mit dem Irish Red Ale weiter. Das typische Melanoidin-Aroma ist recht dominant, das passt zu diesem Bierstil, auch wenn es mir persönlich nicht so behagt. Ein ordentlicher und solider Vertreter seines Stils. 4,7% Alkohol. Das folgende Rye Pale Ale ist als Pale Ale ganz nett, allein der Roggen, mit dem es gebraut worden ist, verbirgt sich geschickt. Weder finde ich brotige noch samtig-viskose Eindrücke, und für einen Moment frage ich mich, ob da mehr als nur eine symbolische Handvoll Roggenmalz mit verbraut wurde. Ähnlich wie beim Wheat handelt es sich hier um ein feines Bier, das ich aber nicht mit dem Stil, unter dem es angeboten wird, identifizieren kann.
Die erste Hälfte habe ich schon durch, und während ich die beiden Holzbrettchen tausche, um an die nächsten vier Biere heranzukommen, bricht draußen ein gewaltiges Gewitter los. Innerhalb weniger Augenblicke steht es direkt über uns. Der Regen wirkt wie ein Wasserwand, so dass das gegenüberliegende Gebäude im Grau verschwindet. Die Blitze zucken, und fast synchron grollt der Donner – wir befinden uns mittendrin. So dauert es auch nur wenige Momente, bis auf allen Flatscreens, die im Taproom hängen, keine Bilder, keine Musikclips, keine Sportszenen mehr zu sehen sind – stattdessen melden die Bildschirme traurig „Your satellite signal is temporarily unavailable“.
Wie gut, dass ich noch genug Bier und Pommes habe, um das Unwetter auszusitzen. Weiter geht’s also!
Das Honeymoon Peach Radler mit 3,5% Alkohol schmeckt leider, wie es klingt. Klebrig und süß. Das geht mir doch zu sehr in Richtung zuckriger Limonade – nicht mein Fall. Deutlich besser dann wieder das Niagara Premium Lager. Ein einfaches Lagerbier ohne Firlefanz. 4,5% Alkohol. Süffig, leicht hopfenaromatisch, mit einer feinen und dezenten Malzsüße. Sehr gut trinkbar, gerne auch in großen, gierigen Schlucken, aber ohne, dass es gleich so wässrig und charakterlos würde wie ein Bud Light. Im Gegenteil, es hat Aroma und Geschmack, und beides sehr schön ausbalanciert. Das typische Bier, mit dem der Brauer beweisen kann, dass er es drauf hat.
Das Amber Eh! Ale mit 5,0% Alkohol ist ein feiner Vertreter seines Stils, aber es bleibt unauffällig, so dass das bemerkenswerteste an diesem Bier die Anspielung auf die im kanadischen Englisch in jeden Satz mindestens zwei, drei Mal eingestreute Interjektion „Eh!“ oder „Eh?“ bleibt.
Einen schönen Abschluss bildet schließlich das Beerdevil IPA mit immerhin 6,5% Alkohol. Knackig hopfig, mit intensiven Hopfenaromen und einem kernigen Abgang. Ein schöner Abschluss der recht umfangreichen Bierprobe.
Inzwischen hat das Gewitter nachgelassen, und ich mache mich wieder auf den Weg. Unten im Erdgeschoss ist nicht mehr viel los, es ist der ruhige Moment zwischen der betriebsamen Mittagszeit und dem Abend, an dem es so richtig rund gehen wird. Ich gehe hinüber zum Sudwerk und sehe, dass der Brauer hier gerade am werkeln ist – der Läuterbottich wird ausgetrebert und gereinigt, während in der Pfanne die Würze kocht und noch eine Extraportion Hopfen bekommt.
Es dauert nicht lang, und wir kommen ins Gespräch. „Hi, I’m Rick! You’re interested in the brewing process, eh?“ Rick erzählt über sich und über seine Brauerei. Brauer hätte er gelernt, dann aber ein paar Jahre in der Medikamentenproduktion gearbeitet, bevor er nun seit einigen Jahren hier wieder in seinem eigentlichen Beruf tätig sei. Gerade liefe der vierte Sud des Flagship-Biers, also des Niagara Premium Lagers. Der ZKG für dieses Bier sei 80 hl groß, aber das Sudwerk gebe nur 20 hl her, insofern müsse er viermal hintereinander dasselbe Rezept brauen, und zwar in ganz kurzer Zeit. Das sei zwar anstrengend, aber dann hätte er mit den Bierspezialitäten dazwischen auch wieder Sude, die nicht so stressig seien und ihm mehr Zeit ließen.
„Hast Du denn schon von der Waitress gehört, dass wir als nächstes ein Sauerbier anbieten werden? Ab nächster Woche, Du musst unbedingt wiederkommen.“
Ich schüttle den Kopf. „Nee, ich bin nur den einen Tag hier. Leider!“
„Warte einen Moment!“ Rick verschwindet und ist nach wenigen Augenblicken wieder da und drückt mir ein Glas in die Hand. „Hier! Dann probierst Du es halt direkt aus dem Lagertank!“
Ein schönes, nur dezent saueres Bier mit deutlich spürbaren Orangennoten. „Clockwork Orange wird es heißen“, erzählt Rick. Es sei ein Kettle Sour, und wie alle anderen Biere seiner Brauerei würde es mit deutschem Malz („Vielleicht kennst Du die Mälzerei aus Bamberg: Weyermann?“) und deutschen Hopfensorten gebraut. Mir gefällt es gut, auch wenn ich nicht der große Sauerbierfan bin.
Noch lange könnten wir hier stehen und erzählen, aber die Realität holt uns ein. Die Niagara Brewing Company ist zwar eine Brauerei, aber das Bier steht trotz allem nicht allein im Mittelpunkt – wichtiger ist, dass hier auf der Partymeile der Stadt immer etwas los ist, es muss immer Action sein. „Rick, kannst Du nicht einfach aufhören und morgen weiterbrauen? Wir brauchen den Platz für die Band, die ihre Bühne und ihre Anlage für heute Abend jetzt hier aufbauen möchte!“
Rick seufzt. „Siehst Du. Kein Verständnis für den Brauprozess. Wie soll das gehen, jetzt mittendrin aufzuhören und morgen weiterzumachen? Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich noch weiter zwischen die Braukessel zurückzuziehen, nicht zu stören und so schnell wie möglich fertigzuwerden. Mach’s gut, danke für’s Gespräch, und es war schön, eh?, Dich kennenzulernen!“
Und da kommen auch schon die ersten Packer mit Sackkarren und bringen das Equipment der Band herein. Nichts wie weg – denn jetzt störe ich in der Tat.
Die Niagara Brewing Company ist mit Stand 19. Juli 2019 täglich ab 11:00 Uhr durchgehend bis weit nach Mitternacht geöffnet; kein Ruhetag. Sie befindet sich ganz zentral direkt am Anfang des Vergnügungsviertels, nur etwa 200 Meter westlich der Rainbow Bridge, die, über den Niagara River gespannt, Kanada mit den USA verbindet.
Niagara Brewing Company
4915-A Clifton Hill
Niagara Falls
ON L2G 3N5
Kanada
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