„Hast Du eigentlich alle meine alten Bücher?“, fragt mich Conrad, als wir nach gefühlt einem Dutzend Bieren zu später, sehr später Stunde in seiner Privatbibliothek sitzen. „Die meisten schon, aber alle? Ich glaube nicht“, überlege ich, und Augenblicke später habe ich ein Buch aus dem Jahr 1993 in der Hand.
„Noch ein Bier – Reisen zu den Stätten europäischer Braukunst“ – ein dickes Taschenbuch. 400 Seiten, schweres Papier, eng bedruckt, wenig Bilder – da hat man was zu lesen!
In insgesamt 24 Reiseberichten erschließt sich Conrad Seidl den Kontinent Europa zu einer Zeit, als die Bierszene noch langweilig war. Klassische Bierstile dominierten ihre jeweilige Heimatregion, echte Kreativbrauer gab es noch nicht, und insbesondere außerhalb der klassischen Bierländer Deutschland, Tschechien, Belgien und Großbritannien gab es eigentlich hauptsächlich Konzernbiere und kaum lokale Braukunst.
Dennoch ist es Conrad Seidl gelungen, hunderte verschiedener Biere zu verkosten und sie zu beschreiben.
Vielleicht ist das Buch an der einen oder anderen Stelle noch nicht strukturiert genug, in den Reiseberichten zu häufig aufzählend-deskriptiv und weniger unterhaltend, als wir es von Conrad Seidls Schreibstil heute gewohnt sind, aber es bietet eine gewaltige Informationsfülle.
Jede der 24 Reisen folgt einem Leitthema, und auch wenn die jeweilige Reise nur eine gedankliche sein und in dieser Form und Reihenfolge vielleicht nicht stattgefunden haben mag, sondern aus Bausteinen zusammengesetzt worden ist, so sind die Schilderungen doch ungeheuer informativ.
Die Liste der Überschriften und somit der Themen ist schon beeindruckend:
- Reisevorbereitungen und erster Ausflug
- Grenzgang zwischen Wasser, Wein und Bier
- In jedem Dorf eine Brauerei
- Ins Hopfenland
- Zur Ur-Quelle des Pils
- Auf der Prager Bier-Burg
- Bei Frauen, die brauen
- Von den Klöstern und ihrem Bier
- In der Bierhauptstadt München
- Hinein ins Weißbierland
- Bei edlen, wilden und starken Bieren
- Die Bier- und Brauhäuser von London
- Auf der Spur des Ale
- Der Scotch und seine Schmuggler
- In den hohen Norden
- In den Brauhäusern der Hanse
- Der Inbegriff des Stout
- Auf der Suche nach den stärksten Bieren
- Grenzgang im Herzen Europas
- Kostproben städtischer Braukunst
- Bei den Bierbaronen
- Das Bier der hohen Herrschaften
- Neue Hauptstadt, neue Länder
- Urlaub abseits der Bierrouten
Insbesondere auf seiner elften Reise hat Conrad Seidl viele Biere entdeckt und verkostet, die wir heute wie selbstverständlich in den Regalen der Spezialbiergeschäfte finden, die 1993 aber noch wirklich zu den ganz exotischen Getränken zählten (und dies für Otto Normalbiertrinker auch heute noch…).
Amüsant, bei der Lektüre festzustellen, was sich seit damals in Europas Bierszene grundlegend gewandelt hat, aber auch, was trotz aller Kreativität der Craftbierrevolution beim Alten geblieben ist. Schön also, dieses Buch mit 27 Jahren Abstand zu lesen.
Ein kleiner Kritikpunkt aber sei mir erlaubt: Die Übergänge von einer Reise zur anderen hätten durch das Einfügen einer Trennseite mit dem Namen jeder einzelnen Bierreise viel leserfreundlicher gestaltet werden können und hätten das Buch somit besser strukturiert. Zwar trägt jede Seite eine Überschriftszeile mit dem Namen der jeweiligen Bierreise, aber wenn man den Fließtext begeistert verschlingt, kann es passieren, dass man sich plötzlich in einer neuen Reise wiederfindet und gar nicht gemerkt hat, wann man denn den Übergang von einer Reise zur nächsten gemacht hat.
Trotzdem: Eine empfehlenswerte Lektüre, die antiquarisch im Internet zum Teil für weniger als zwei Euro für ein Buch mit Gebrauchsspuren erhältlich ist.
Conrad Seidl
Noch ein Bier – Reisen zu den Stätten europäischer Braukunst
Deuticke
Wien, 1993
ISBN 3-216-30042-0
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