Wien – die einzige Metropole weltweit, in der Wein in nennenswertem Umfang angebaut wird. Über 600 Hektar! Und so ist die Stadt an der Donau denn auch für ihre Weinlokale, die Heurigen, bekannt und ebenso für ihr Wiener Blut, die vom Wein angefachte Heißblütigkeit der Damenwelt, wie sie Johann Strauss (der Sohn) in seiner Operette musikalisch beschrieben hat. Wer denkt bei Wien schon an Bier?
Doch heimlich hat sich Wien zu einer spannenden Bierhauptstadt entwickelt. Nicht nur, was die Menge anbelangt (seit rund zwei Jahren haben die Österreicher mit ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch die Deutschen vom zweiten Platz hinter den uneinholbaren Tschechen verdrängt), sondern auch in Bezug auf Qualität und Vielfalt. In fast allen Stadtbezirken entstehen kleine und kleinste Brauereien, und wer die Investition in ein eigenes Sudwerk scheut, eröffnet stattdessen eine Bierbar oder betätigt sich als Wanderbrauer auf fremder Hardware.
Weithin sichtbares Aushängeschild der Wiener Bierszene ist die einzige verbliebene Großbrauerei im Stadtgebiet, die Ottakringer Brauerei im 16. Bezirk. Vor nicht allzu langer Zeit hat sie begonnen, ihr Portfolio zu erweitern, und dort, wo auf ihrem Betriebsgelände vor wenigen Jahren noch ein riesiger Lagertank stand, produziert jetzt das Brauwerk Wien, ein kleiner Ableger der Ottakringer, in einem drei Stockwerke hohen Glaszylinder Bierspezialitäten auf einer kleinen Anlage, gerne auch Kollaborationen mit anderen Kleinbrauereien. Aber damit nicht genug: Gemeinsam veranstalten die Ottakringer und das Brauwerk jeden Sommer die Ottakringer Braukulturwochen: Die ganzen Sommerferien lang lockt ein endloses Bierfest tausende von Besuchern an; jede Woche ist eine andere kreative Brauerei aus Europa oder der Welt mit ihren Spezialitäten zu Gast.
Ebenfalls noch im 16. Bezirk brauten Franz Lughofer und Thomas Haginger bis vor wenigen Wochen auf einer winzigen Anlage, die sie gebraucht vom Bierzauberer und Krimiautor Günther Thömmes erworben hatten, unter dem Namen Xaver – Die Brauerei vorzügliche Biere. Einen richtigen Ausschank hatten sie nicht, aber während der Zeiten des Rampenverkaufs konnte man gerne auch vor Ort stehen bleiben, fachsimpeln und die Biere gemeinsam mit den Brauern verkosten. Schade, dass sie schon vor der Corona-Krise schließen mussten.
Diagonal am anderen Ende der Stadt hat sich in der ehemaligen Brotfabrik Anker das Bräuhaus Ten.Fifty. eingenistet. Der Österreicher Simon Latzer und der Brite Martin White brauen hier seit Anfang 2018 ein breites Portfolio regelmäßig wechselnder Biere. Eigentlich wollten sie ihre Brauerei im 5. Bezirk eröffnen und haben sie deshalb mit dessen Postleitzahl 1050, Ten.Fifty., eintragen lassen, aber dann fanden sie die perfekte Immobilie im 10. Bezirk. Der Name blieb und steht für Qualität und spannende Bierproben jeden Donnerstagabend im Taproom oberhalb der Braukessel.
Nur wenige hundert Meter weiter wird seit Generationen Essig gebraut. Und seit ein paar Jahren auch Bier. Erwin Gegenbauer hat sich in den Kopf gesetzt, in einer von Essigsäurebakterien nur so kontaminierten Umgebung nachhaltig und biologisch Bier herzustellen. Seiner Brauerin Angela Fleischer fordert das Höchstleistungen im Bereich der Betriebshygiene ab – aber sie liefert diese auch. Die Biere der Brauerei Gegenbauer sind schmackhaft und weisen keine Spur von Säure auf, außer beim absichtlich gesäuerten, im Balsamicofass gelagerten Edelsauren . Wer sich hier mit ein paar Flaschen eindeckt, kann – neben Essig natürlich – gleich auch noch jede Menge weitere schmackhafte Produkte erwerben, beispielsweise auch einen eigenen Balsamico-Honig.
Von der Essigbrauerei reisen wir nun nach China. Mit der Losung „100 Blumen sollen blühen und 100 Schulen miteinander wetteifern“ ermunterte Mao 1956 seine chinesischen Landsleute, konstruktiv Kritik am System zu üben, um es so zu verbessern. Das lief seinerzeit zwar aus dem Ruder und die Hundert-Blumen-Bewegung wurde rasch verboten, aber sechzig Jahre später gibt es in Wien im 23. Bezirk eine Brauerei mit dem Namen 100 Blumen. Ihr Gründer, Alexander „Sascha“ Forstinger ist studierter Sinologe, und so, wie Mao einst auf 100 konstruktive Ideen hoffte, braut Alexander nun vielleicht 100 Biere. Eine Blume macht noch keinen Frühling, aber 100 Blumen können ein Anfang sein. Ein Bier macht noch keine Craftbier-Revolution, aber 100 Geschmäcker und Bierstile können ein Auftakt sein für ein Aufblühen der österreichischen Bierkultur.
Gar nicht revolutionär, sondern konservativ zeigt sich eben diese Bierkultur in den zahlreichen Gasthausbrauereien, die über das Stadtgebiet verteilt sind. Wer möchte sie alle abwandern und sich durchprobieren? Vom Medl-Bräu im 14. Bezirk über das Laurenz 4 im 5., das Wieden-Bräu im 4. und das Salm-Bräu im 3 bis hin zum Lichtenthaler Bräu im 9. und dem Fischerbräu im 19. Bezirk kann die Wanderung gehen. Wie viele Krügerl (so heißen die Halblitergläser in Wien) und wie viele Stelzen (so heißen hier die Haxen) passen wohl in den Magen des Bierwanderers?
Viel experimenteller sind dann wieder die Wanderbrauer von BrewAge. Raphael Schröer, Michael Mauer, Johannes „Honso“ Kugler und Thomas Mauer brauen ihre im ganzen Land beliebten Biere meistens beim Gusswerk in Salzburg. In der Wiener Innenstadt haben sie einen kleinen Laden, der Probierstube, Büro und Shop gleichzeitig ist. Dort ihre Biere zu verkosten (allen voran ihr Aushängeschild, das Imperial IPA Affenkönig) und mit ihnen zu fachsimpeln, ist immer eine Freude, vor allem, wenn man im Gespräch so beiläufig von ihren weiteren Plänen erfährt. Beispielsweise haben sie im Januar 2020 mit dem achtundzwanzig einen Taproom eröffnet, in dem es ihre Biere nun endlich auch vom Fass gibt, und haben ihn wegen der Corona-Krise nach ein paar Wochen gleich wieder vorübergehend schließen müssen.
Genauso spannend lässt es sich mit Johannes Grohs und Alexander Beinhauer von Next Level Brewing diskutieren. Next Level ist ebenfalls eine Wanderbrauerei, gleichzeitig aber auch ein Homebrew-Shop, in dem man alles, wirklich alles bekommt, was man zum Hausbrauen benötigt, egal ob Hardware, Rohstoffe oder praktische Anleitung. Und es ist auch ein Bottle-Shop – zahlreiche Bierspezialitäten kann man hier bekommen und gemütlich vor Ort trinken oder mit heimnehmen. Was man aber unbedingt braucht ist: Viel Zeit! Mal eben vorbeigehen, einkaufen und schnell weiter ist nicht – dazu ist es hier zu vielfältig!
Homebrew-Shop, Bottle-Shop und eine kupferne Brauerei zum Anfassen, das findet man bei den BeerLovers. Ein gewaltiger Craft Beer Store. 800 verschiedene Biere aus der ganzen Welt, Hausbrauzubehör und -zutaten, Verkostungs- und Brauseminare in einem großen Verkostungsraum und im Tiefgeschoss schließlich noch ein perfekt poliertes Kupfersudwerk, die Muttermilch Vienna Brewery, auf der hervorragende Biere entwickelt werden. Hier wurde viel Geld in die Hand genommen, ordentlich investiert und ein einzigartiges Bier-Erlebniszentrum geschaffen.
Wem nach so viel Biererlebnis der Kopf brummt, mag vielleicht einfach nur noch in einer Craftbierbar sitzen und bei guter Bierauswahl abhängen. Auch da bietet Wien eine bunte Palette. Beeindruckend groß die Hefenbrüder in der großen Einkaufsstraße mitten in der Stadt. Ein Wortspiel übrigens, denn Häf’n heißt im Wiener Lokalidiom Knast, Häf’nbrüder also Knastbrüder. Alteingesessen, kuschelig dunkel und gemütlich das Känguruh mit einer einmaligen Auswahl an belgischen Spezialitäten, die teils auch in ihrem Heimatland nur selten zu bekommen sind. Neu und sehr international das AmmutsØn, das seine ständig durchrotierende Bierauswahl auf elektronischen Anzeigen bekanntgibt.
Und so könnte man weiter und weiter durch Wien wandern, Delikatessengeschäfte mit Bierausschank wie das Verde 1080 erkunden, die eher linke Szene im Statt-Beisl | im WUK besuchen, feine Bistroküche mit gutem Bier in der Schwemme – Wiener Bistro kombinieren oder im an die niederländischen braunen Cafés erinnernden Café Lassa final versacken.
Und bei alledem den Wiener Wein überhaupt nicht vermissen …
(Aufgrund der Corona-Krise ist es schwierig, Reiseberichte zu schreiben – bis zum Redaktionsschluss haben sich Öffnungszeiten und Besuchsmöglichkeiten nahezu täglich geändert, und leider ist es auch nicht auszuschließen, dass die eine oder andere bierige Adresse mittlerweile endgültig schließen musste.)
Interessante Adressen in Wien:
100 Blumen Brauerei, Endresstraße 18, Innenhof, Stiege 4
achtundzwanzig, Schlösselgasse 28
AmmutsØn, Barnabitengasse 10
BeerLovers Craft Beer Store und Muttermilch Brauerei, Gumpendorfer Straße 35
Brauerei Gegenbauer, Waldgasse 3
Bräuhaus Ten.Fifty., Absberggasse 27/17 Unit 10.2
Brauwerk Wien, Ottakringer Platz 1
BrewAge, Mittelgasse 4
Café Lassa, Thurngasse 19
Die Schwemme – Wiener Bistro, Marokkanergasse 3
Fischerbräu, Billrothstraße 17
Hefenbrüder, Mariahilfer Straße 117
Känguruh, Bürgerspitalgasse 20
Laurenz 4, Wiedner Hauptstraße 111
Lichtenthaler Bräu, Liechtensteinstraße 108
Medl Bräu, Linzer Straße 275
Next Level Brewing, Wilhelmstraße 23
Ottakringer Brauerei AG, Ottakringer Platz 1
Salm-Bräu, Rennweg 8
Statt-Beisl | im WUK, Währinger Straße 59
Verde 1080, Josefstädter Straße 27
Wieden-Bräu, Waaggasse 5
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