Jürgen Roth, Metulczki
Wir sind Bier
Typologie und Trinkgedächtnisse

Es sind wohl bald zehn Jahre, dass ich mich per eMail im Streitgespräch mit einem Brauer wiedergefunden habe. In der Rückschau nicht ganz zu Unrecht emotional bezichtigte er mich schlechter Recherche und verlangte die unverzügliche Löschung eines Blogbeitrags über seine Brauerei.

Ich war seinerzeit auf der Suche nach seiner Brauerei falsch abgebogen, hatte einen Einheimischen gefragt, wo diese sich denn nun befände, und war – was für ein dummer Zufall – auf jemanden gestoßen, der besagten Brauer eher nicht zu seinen Freunden zählen würde. Eher im Gegenteil. „Diese Scheiß-Brauerei“, beschied mich dieser Jemand aufbrausend und wies mir den Weg zu einem heruntergekommenen Hinterhof.

Nun habe ich schon viele Hinterhofbrauereien gesehen und gelegentlich nur durch schmutzige und verschlossene Fenster in irgendwelche Abstellkammern schauen können. So dachte ich mir auch hier nichts weiter. Ich veröffentlichte ein paar dürre Sätze zu zwei, drei nicht übermäßig einladend wirkenden Fotos, und dachte, damit hätte es sein Bewenden. Verpasst habe ich so die eigentliche Brauerei, die ich, wie ich mittlerweile weiß, eine Straße weiter auf der anderen Seite des Areals hätte aufsuchen können, dort, wo sie sich auch heute noch befindet.

Der Brauer war also zu Recht unzufrieden. Ich löschte meinen Blogbeitrag wieder, und heute erinnere ich mich nur noch an ein paar durchaus satisfaktionsfähige Formulierungen in des Brauers eMails und an seinen Satz, dass es sich bei seinen Produkten um „handwerkliche Biere mit Auftritt“ handele.

Jetzt bin ich nicht so ein Freund von merkwürdigen Werbe-Metaphern. „Handwerkliche Biere mit Auftritt“, was soll das sein?

Ein bisschen trägt der Oktober Verlag aus Münster zur Erleuchtung bei:

Jürgen Roth, Metulczki
Wir sind Bier

Biere mit Auftritt, die finde ich nämlich in dem vor mir liegenden kleinen Büchlein „Wir sind Bier“ von Jürgen Roth und Metulczki. Philosophie und darstellende Kunst finden auf hundert Seiten in begeisternder Harmonie zusammen. Ein kleines Meisterwerk.

Jürgen Roth hat über Jahre hinweg in seinen Notizen eine Biertypologie gesammelt, die von A wie Abendabschlußbier – mit „ß“, denn er verweigert sich konsequent der neuen Rechtschreibung – bis Z wie Zwischenbier reicht. Kurze und prägnante oder längere, in komplexer Grammatik herummäandrierende, immer aber humorig treffende, oft bis ins beißend Spöttische gehende Definitionen der Biertypen machen den alltagsphilosophischen Textteil des Buches aus.

Die darstellende Kunst im Bildteil stammt von Metulczki. Über vierzig fotorealistische, teils schon überrealistisch wirkende kleine Gemälde, Trinkgedächtnisse genannt. Acryl und Schellack auf Leinwand. Das Motiv eigentlich immer gleich: Ein oder zwei Biergläser im schlichten Ambiente einer Eckkneipe, einer Trinkhalle oder einer Wirtsstube. Meistens einfache Holztische, gelegentlich mal eine altmodische Tischdecke. Eindrücke aus Wirtschaften, in denen die Zeit seit mindestens sechzig Jahren stillzustehen scheint.

Immer gleich? Einerseits ja, andererseits nein. Jedes Bild fängt für sich ganz unvergleichlich eine individuell besondere Atmosphäre ein. Die warmen Lichtstrahlen, die durch die Fenster kommen, die Biergläser, die in diesem Licht goldgelb leuchten, die Holztische, -stühle und -vertäfelungen, die atmosphärische Schwingungen erzeugen, deren Resonanz den Betrachter auf eine Reise durch Raum und Zeit schickt. Ein besonderes Flair. Ein wahrer Auftritt dieser Biere.

… und so wird mir nach zehn Jahren die Metapher vom „handwerklichen Bier mit Auftritt“ doch noch nachvollziehbar verdeutlicht!

Biertypologie und Trinkgedächtnisse

Wir sind Bier – das ist ein Buch, das ich zur Hand nehmen, irgendwo aufschlagen und dann mit einer oder zwei Doppelseiten eine geraume Zeit verbringen kann. Amüsiert über die teils surrealen Definitionen und Wortspielereien, fasziniert von der Strahlkraft der kleinen Gemälde.

Wobei … Strahlkraft? In einem kleinen, preiswerten und auf Normalpapier gedruckten Büchlein verlieren Metulczkis Trinkgedächtnisse leider ein wenig von eben dieser. Die Faszination der Bilder bleibt zwar erhalten, aber die leuchtende Kraft von Acryl und Schellack kann natürlich nur im Original uneingeschränkt bezaubern. Nähern kann man sich dieser Leuchtkraft immerhin ein bisschen in der elektronischen Wiedergabe auf einem hochwertigen Bildschirm – hier empfiehlt sich ein Besuch der Website der Galerie Artae Leipzig, wo sich zahlreiche Trinkgedächtnisse finden.

Wir sind Bier – eines der wenigen Bücher, von Nachschlagewerken einmal abgesehen, die ich immer mal wieder aus dem Regal nehme, um erneut darin zu blättern. Ein Buch, das mir schon oft Vergnügen bereitet hat und das nicht, wie so viele andere, nach einmaligem Lesen seinen Platz gefunden hat und fortan eigentlich nur noch vor sich hin staubt und gilbt.

Jürgen Roth, Metulczki
Wir sind Bier
Oktober Verlag
Münster, 2016
ISBN 978-3-946938-00-2

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.