„Umgehungsstraßen im ländlichen Siedlungsraum – Fluch oder Segen für die wirtschaftlich-infrastrukturelle Entwicklung?“ So oder ähnlich könnte das Thema für einen Besinnungsaufsatz in der Oberstufe lauten, und die gleichen Überlegungen drängten sich mir auf, als ich am 17. Februar 2015 im Ortszentrum von Gondelsheim im Kraichgau stand.
Seit vielen hundert Jahren steht hier an der zentralen Kreuzung des kleinen Orts ein Gasthaus, das „schon immer“ eine Station für die Kutschen war, die auf der Strecke der heutigen Bundesstraße 35 durch den Kraichgau reisten, teilweise auf einem hunderte Kilometer langen Weg durch Europa. Im Gegensatz zu heute führten diese Handels- und Reisewege mitten durch die Ortszentren. Reisende kamen von überall her, brachten Kunde aus anderen Landesteilen und natürlich auch Geld in die Orte, denn Übernachtung und Verpflegung gab es auch damals schon nicht umsonst.
Der Kutschenhalt LoewenThor entwickelte sich so zu einem erfolgreichen Wirtshaus, und die Chronik des Hauses kann die Wirtsleute bis zum Jahr 1701 zurückverfolgen und auflisten. Teile des Hauses sind sogar noch älter – so befindet sich im Zentrum des Anwesens ein Brunnen, der sogar 400 Jahre alt und noch original erhalten ist.
Heute führt die B 35 in einem großen Bogen um Gondelsheim herum, was den Bürgern einen ruhigen Schlaf sichert, aber auch die Anzahl der Gäste, die zufällig hier im LoewenThor einkehren, drastisch reduziert. Man muss also schon wissen, wo man hin will, was einen erwartet, um hier von der Schnellstraße abzubiegen und Rast zu machen.
Und so war es auch in meinem Fall. Viele, viele Jahre schon bin ich auf der B 35 an Gondelsheim vorbeigebraust, ohne mir viele Gedanken zu machen, und erst heute wurden mir durch ein Treffen mit Arbeitskollegen die Augen geöffnet, welches Kleinod hier verborgen auf die Entdeckung durch den Bierreisenden wartet.
Staunend stehe ich vor der bunten und abwechslungsreichen Fassade des alten Wirtshauses. Halb Naturstein, halb Fachwerk, kleine Fenster, viel Schmuck. Nach Durchschreiten der Eingangstür eine Fülle von Eindrücken. Ein Sammelsurium alter Gegenstände im Foyer, und ein Schrank voller Getränkespezialitäten. Belgische Biere, in allen möglichen Stilrichtungen, speziell produziert für dieses Gasthaus. Alles hätte ich erwartet, hier in der Provinz, aber das nicht.
Zwei Jahre lang reifen die Bierspezialitäten in Holzfässern und werden anschließend aufgekräust und in Champagnerflaschen abgefüllt. Nach einer mehrwöchigen Nachreifung sind sie dann bereit zur Verkostung. Vom hellen hopfigen Bier über dunkle, malzige Sorten, aber auch für Belgien typische Fruchtbiere – das Angebot ist umfassend. Die junge Kellnerin strahlt, als sie mir vom Herstellungsprozess berichtet, der Stolz auf diese Spezialitäten ist ihr anzumerken. Eine Antwort bleibt sie mir aber trotzdem schuldig: Welche belgische Brauerei diese Biere braut. Sie zuckt verlegen mit den Achseln.
Langsam spaziere ich durch die zahlreichen Gasträume des LoewenThors und will mir schon mal überlegen, welches Bier ich denn gleich verkosten werde; denn dass es bei einem bleiben muss, weil ich noch fahren muss, das ist mir leider klar. Aber anstatt mir über die Biere Gedanken machen zu können, werde ich überwältigt von den Eindrücken. Jeder Raum ist anders gestaltet, scheint über Jahrhunderte hinweg gewachsen zu sein, sorgfältig instandgehalten, aber ohne den Stil zu verändern. Leise klassische Musik läuft im Hintergrund, die Beleuchtung ist dezent, der Schmuck der Räume opulent – ich fühle mich wie auf einer Zeitreise. Und nirgends habe ich einen Disney-Effekt, also das Gefühl, dass alles nur künstlich, inszeniert sei. Ganz im Gegenteil, alles wirkt, als sei die Zeit hier stehen geblieben.
Endlich am Tisch angekommen, entscheide ich mich für ein hopfiges, trockenes Bier, das Drooge Keel. Leicht holzige und astringierende Noten, ein intensives, aber nicht zu dominantes Hopfenaroma, fast keine Restsüße – ein wunderbarer Aperitif. Eine gute Wahl.
Das Essen dazu ist hochklassig. Feinste Küche zu allerdings auch mit der Qualität korrespondierenden Speisen. Ein Biererlebnis der ganz besonderen Art – exklusives Bier zu einem exzellenten Dinner. Und damit mal ein Bier vor Ort in einem selten erlebten Ambiente.
Ob die B 35 nun Fluch oder Segen für den Ort ist, kann ich aber nach wie vor nicht beantworten. Ich weiß aber, das ich das nächste Mal, wenn ich hier über die Schnellstraße fahren werde, mit Sicherheit den kleinen Abstecher in das Ortszentrum machen werde und in der Bruchsaler Straße, im historischen Kutschenhalt auch meine moderne Kutsche auf den direkt hinter dem Gasthof gelegenen Parkplatz stellen und mir die Zeit für eine kurze Rast nehmen werde.
Vielleicht auch für eine längere, denn genau gegenüber im Hotel Hahn bietet derselbe Betreiber ein Hotel in ähnlich historischem Stil an. Und das gäbe dann die Möglichkeit, doch ein paar mehr der vielen hier angepriesenen Spezialbiere zu probieren!
Der Kutschenhalt LoewenThor ist täglich ab 11:00 Uhr durchgehend geöffnet, es gibt keinen Ruhetag. Der Parkplatz ist wenige Schritte weiter. Die Biere gibt es auch flaschenweise (0,75 l Champagnerflaschen) im Straßenverkauf zu gegenüber dem Ausschank im Lokal geringfügig reduzierten Preisen.
Nachtrag 3. April 2015: Angesichts einer Übernachtung im an diesen Gasthof angeschlossenen Hotel kehrte ich heute ein, ohne mit dem Auto fahren zu müssen, und hatte so die Gelegenheit, die hier angebotenen Biere etwas ausgiebiger zu verkosten. Das Droogekeel konnte erneut voll überzeugen. Noch etwas frischer und spritziger das Jubiläums Hell mit 7,7% Alkohol.
Eine wahre Offenbarung waren aber die drei dunklen Biere, von denen eines besser und komplexer schmeckte als das andere. Das Mephisto, mit 5,6% nicht sehr stark, kombinierte Malz- und Hopfennoten in hervorragender Weise; das Brunette Double, mit 9,5% das stärkste der Runde, begeisterte mit kräftigem Malzgeschmack; und das Moro, mit 8,3% Alkohol, wies eine derartige Komplexität an hefigen und estrigen Fruchtnoten auf, dass ich es für heute zum Favoriten erkor. Dazu exzellentes Essen, ein perfekter Service. Rundum zufrieden.
Gasthaus LoewenThor
Bruchsaler Straße 4
75 053 Gondelsheim
Baden Württemberg
Deutschland
Beim nächsten mal unbedingt das Lambic (ohne zus. Frucht) probieren; herrliche Säure, eine dezente Süße und ein feiner aber gut spürbarer Hopfen macht dies zum meinem Lieblings-Belgier. (Und dazu geschmorte Ochsenbäckchen.)
Danke für den Tipp, Dirk, werde ich das nächste Mal beherzigen, wenn ich in Bruchsal bin!
VQ