Mit geradezu nostalgischen Gefühlen nehme ich diesen Klotz Papier in die Hand. Weit über 500 Seiten, dickes und festes, hochwertiges Papier im relativ kleinen Format machen aus dem Buch Great Beer Guide des leider viel zu früh verstorbenen Michael Jackson einen Papierziegelstein. Einen, der es in sich hat und der seinerzeit – das Buch stammt aus dem Jahr 2000 – Maßstäbe setzte.
Wir erinnern uns. Vor nunmehr 17 Jahren sprach in Deutschland und Europa niemand von Craft-Bier. Bier-Innovationen, das waren neuartige Biermischgetränke wie beispielsweise die unsägliche Veltins V+-Reihe, die mit V+ [‚lemon], V+ [kola] und V+ [curuba] süßlich und chemisch-fruchtig schmeckende Szenegetränke präsentierte, die mit Bier nicht mehr viel zu tun hatten. Oder neue Flaschenformen, nach dem Motto: Wenn sich schon die Biere der großen Hersteller nicht unterscheiden, dann wenigstens ihre Verpackung. Gute und originelle Biere fand man seinerzeit nur irgendwo in der fränkischen Provinz, wer aber das Pech hatte, woanders zu wohnen, schaute in seinem Supermarkt in die Röhre.
Nicht, dass das damals irgendjemanden gestört hätte (außer einigen wenigen merkwürdigen und schrulligen Zeitgenossen), man kannte es schließlich nicht anders.
In dieser Situation kam Michael Jackson mit diesem Buch und definierte zunächst einmal, was Great Beers und Bland Beers voneinander unterscheidet: „Bland beers have no finish. Drinkers are left wondering whether they just had a beer or simply breathed some wet air (…). Great beers have a long, lingering aftertaste. As with wine, tasters take of ‘length’.”
Und stellte dann kurzerhand 500 dieser Great Beers einzeln vor – jedem Bier wurde eine ganze Seite in diesem Buch gewidmet. Nicht nach Ländern sortiert, nicht nach Bierstilen, sondern nach dem Alphabet, von Aass Bock bis Zirndorfer Landbier Hell. Zu jedem Bier wurde angegeben, aus welcher Region es stammt, welchem Stil es zuzuordnen ist, welchen Alkoholgehalt es aufweist und schließlich bei welcher Temperatur es am besten serviert werden soll. Dazu ein hochprofessionelles Foto und einige Zeilen Text, die es in sich haben. In typischer Manier gelang es dem Autor, Wissenswertes über die Brauerei, den Brauer, das Bier oder seine Geschichte und ein paar einprägsame Geschmacks- und Aromabeschreibungen in nur wenigen Worten zusammenzufassen.
Man könnte meinen, dass es ermüdend sein müsste, 500 Verkostungsbeschreibungen zu lesen, dass sich vieles wiederholen und dass die Wortwahl langweilen müsste. Weit gefehlt. Michael Jackson blieb farbig und abwechslungsreich, widmete sich wirklich jedem Bier in ganz individueller Weise und hat somit ein wunderbares Werk geschaffen.
Heute wäre dies selbst einem Meister wie ihm kaum noch möglich. Zu schnelllebig ist die Bierwelt geworden, zu schwierig ist es mittlerweile, zu erkennen, welches Bier, obwohl ausgezeichnet, nur eine Eintagsfliege ist, und welches sich als Klassiker so am Markt etabliert, dass es sich auch rechnet, es in einem Buch zu erfassen und zu beschreiben. Wie viele kleine Brauereien entstehen derzeit weltweit, bringen hervorragende Biere auf den Markt, aber ändern ständig ihr Portfolio? Passen sich an die Welt der Beerticker an, die um den Globus reisen, um möglichst viele verschiedene Biere zu verkosten. Bringen lieber ein neues Bier nach einem neuen Rezept auf den Markt, als dass sie einem guten Bier die Chance geben, zum Klassiker zu werden. Ein fantastisches Russian Imperial Stout einer winzigen lettischen Hinterhofbrauerei beispielsweise. Würde Michael Jackson es heute erfassen? Oder sähe er eher das Risiko, dass Bier und Brauerei zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buchs bereits wieder von der Bildfläche verschwunden sind? Ich weiß es nicht.
Was ich aber weiß, ist, dass das Buch damals genau zum richtigen Zeitpunkt erschien und Mut machte, über den Tellerrand zu sehen und Biere anderer Länder und anderer Kulturen zu erkunden. Es ermutigte, den Wert der Biere der eigenen Region, die wenigen guten Biere, die man seinerzeit im Supermarktregal finden konnte, wieder zu schätzen – denn oftmals ist es die fehlende Abwechslung, die Routine, Langeweile gar, die dazu führt, dass man ein wirklich gutes Bier einfach ignoriert.
Heute ist es so viel einfacher, gutes Bier zu finden und sich über gutes Bier zu informieren. Zahlreiche Bücher und Zeitschriften geben aktuelle Überblicke, bleibe am Puls der Zeit. Damals gab es eher einige wenige Standardwerke, so wie den Great Beer Guide.
Was zeichnet dieses Buch noch aus?
Es verzichtet auf den in fast allen Büchern obligatorisch scheinenden Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Biers. Michael Jackson braucht diese immer wieder breitgetretene Darstellung mesopotamischer Braukunst nicht, um Seiten zu schinden – sein Buch ist auch so dick genug.
Es bietet nach den 500 Bier-Profilen in kurzer knapper Darstellung Hilfestellung, wie man verschiedene Bierstile korrekt einschenkt, wie man Bier am besten verkostet, um den größten Genuss zu erzielen, und mit welchen Vokabeln man seine Aromen und Geschmäcker am besten beschreibt.
Selbst das Kochen mit Bier und das Food-Pairing findet hier kurz und prägnant Erwähnung, und ganz am Ende findet sich sogar noch ein Quellenverzeichnis im doppelten Sinne. Quellen für weitere Recherche (einschließlich einiger wertvoller Internetadressen), aber auch Quellen, bei denen man gute Biere kaufen kann – im Jahr 2000 gab es noch nicht an jeder Straßenecke einen Craft-Bier-Shop!
Apropos Craft-Bier: Bemerkenswert ist noch, dass das Buch ohne diesen Begriff auskommt! Chapeau!
Michael Jackson
Great Beer Guide
Dorling Kindersley Limited
London, 2000
ISBN 0-7513-0813-7
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