Ich spaziere die Hanauer Landstraße in Frankfurt entlang und seltsame Gedanken beginnen in meinem Kopf zu kreisen. Habe ich sie hier vielleicht entdeckt? Ist sie das, die deutsche Leitkultur? Dieser Begriff, der insbesondere im Rahmen der Flüchtlings- und Einwanderungswelle vor zwei Jahren in der Politik so eifrig diskutiert, aber nie richtig definiert wurde?
Ich gehe an einem Autohaus entlang. Auch am Abend hell, geradezu grell erleuchtet. Die Luxusgefährte stehen dort wie auf dem Präsentierteller. Das nächste Gebäude: Ein Fitnessstudio. Dann wieder ein Autoverkauf, dann eine Muckibude. Autos und Körperkult.
Deutsche Leitkultur?
Beim Bankdrücken und Eisenbiegen versuchen die auf immer Adoleszenten ihre Körper in Form zu bringen, um dem Instagram-Konkurrenzdruck standhalten zu können. Muskeln und Adern schwellen, die Haut glänzt schweißig-fettig-ölig. Nicht bei jedem schlägt das Training wunschgemäß an, und so ist die Versuchung groß, mit illegalen Mittelchen nachzuhelfen. Die Freundin Anna Bolika weiß zu helfen. Und zwar genau so lange, bis sich die ersten unerwünschten Nebenwirkungen einstellen. Und dann ist guter Rat teuer, denn nichts ist schlimmer, als als Spätpubertierender in einem Mister-Universum-Körper gefangen zu sein, der mit erektiler Dysfunktionalität aufwartet.
Impotente Muskelberge? Ach, vielleicht doch nicht so schlimm? Direkt nebenan, das Autohaus weiß Rat: „Big Cars for Small Dicks!“ Wer unter seinem künstlich hochgezüchteten Sixpack plötzlich Schwierigkeiten hat, seinen schlappen kleinen Freund wiederzufinden, findet hier etwas Anderes: Kompensation, nämlich. Und an der nächsten roten Ampel, wenn er von seinen künstlichen Testosteronen gesteuert den Motor aufheulen lässt, erlebt er vielleicht doch noch einmal einen müden Abklatsch seiner einstigen Orgasmusfähigkeit.
Die Hanauer Landstraße. Deutsche Leitkultur. Die Allee der testarossaroten feuchten Träume.
Surreale, skurrile Gedanken?
Ach, vielleicht ja. Vielleicht aber auch nicht?
Nach gefühlt Dutzenden von Autohäusern und Fitnessclubs taucht in zweiter Reihe zwischen den Häusern in einem Hinterhof versteckt die Dicke Wutz auf. Und sie ist der eigentliche Grund, der mich in die Hanauer Landstraße geführt hat. Nicht die Anabolika-Studios, nicht die tiefergelegten und spoilerbewehrten goldenen Kälber einer verlorenen Generation, sondern – natürlich! – das Bier.
Die Dicke Wutz – „Hier fliegt die Kuh!“, heißt es auf der Website, und geworben wird mit der hohen Kunst des richtigen Grillens. Schwein? Rind? Geflügel? Es ist Wurst, im wahrsten Sinne des Wortes. Und dazu gibt es Craft Beer, nach dem Motto „Brauen ist Handwerk!“.
Ich betrete den großen Schankraum. Viel los ist nicht, es ist Montag, aber einige Tische sind besetzt, und dort, wo die Menschen sitzen, wird offensichtlich auch viel Umsatz gemacht.
Ein junger Kellner kommt auf mich zu, sichtlich um mich bemüht empfiehlt er mir einen Platz nicht allzu weit von der Theke entfernt und erklärt mir in einigen, wenigen Sätzen das Konzept der Dicken Wutz. Barbecue und gutes Bier. Ein bisschen im American Style, ein bisschen auf den Hipsterzug aufgesprungen. Die Speisekarte und eine separate Bierkarte drückt er mir noch in die Hand und wünscht eine gute Lektüre.
Wie immer fange ich mit der Bierkarte an. Ein breites Angebot, viele verschiedene Stile, aber nur wenige unbekannte Namen und Marken. BrewDog, Sierra Nevada, Belhaven, Fullers, Samuel Adams, Wychwood und Samuel Smith. Durch die Bank gute Marken, bekannte Namen, große Player in der noch kleinen Szene. Einige, wenige deutsche Namen nur darunter: Hanscraft, Schoppebräu und … Licher.
Licher?
Na gut. Licher. Wir sind in Hessen. In Frankfurt. In der Bierdiaspora der deutschen Großstädte.
Da ist Licher vielleicht auch so etwas wie Craft Beer. Der Eisvogel lässt grüßen.
Während ich noch so blättere, tritt ein kleiner, freundlicher Herr in altmodischer Strickjacke, aber mit neumodischem Sidecut an meinen Tisch, fest entschlossen, mich in allen Details zu beraten. Ein bisschen theatralisch, ein bisschen exaltiert, aber in der Sache gar nicht mal so schlecht. Zunächst kommt die kurze Frage, ob ich denn den Begriff „Craft Beer“ schon einmal gehört habe. Seufz. Ich fühle mich getroffen. Man beginnt offensichtlich, mir mein Alter anzusehen. Ich sehe mittlerweile wohl tatsächlich schon so aus, als könnte ich mit diesem hippen Kampfbegriff noch nicht in Kontakt gekommen sein.
„Aber natürlich“, würde ich gerne antworten, komme aber gar nicht zu Wort, sondern höre stattdessen einen Kurzvortrag, was Craftbier denn von normalem Bier unterschiede, und welche hervorragenden Vertreter dieser neuen Bierkultur hier im Ausschank seien. Nach detaillierter und bei aller Skurrilität des Auftritts in der Sache durchaus fachkundiger Beschreibung entscheide ich mich für einen Klassiker, das Punk IPA von BrewDog. In seiner fruchtigen Aromatik immer wieder eine gute Wahl.
Das findet auch mein persönlicher Berater und beeilt sich jetzt, das zum Bier passende Essen zu identifizieren. Beer-Food-Pairing – eine hervorragende Sache, die in Deutschland noch viel zu oft unterschätzt wird. Zwar dachte ich bisher immer, es ginge darum, zunächst das Essen festzulegen und dann das dazu passende Bier zu finden, aber meinetwegen: Ich lasse mich gerne auf dem „andersrummen“ Ansatz ein.
Gemeinsam identifizieren wir eine gemischte Platte. Zwei grobe, gut gewürzte Bratwürste, eine Handvoll Pulled Pork aus der Schweineschulter, dicke Bohnen mit festem Fleisch, ein paar Scheiben eingelegte Gurken und ein Schüsselchen Coleslaw-Salat. Dazu ein paar leckere Sößchen.
Als Essen und Bier kommen, bin ich rundum zufrieden – gut eingeschenkt, gut zubereitet, gut miteinander kombiniert. Sehr schön. Auch wenn es die verkehrte Reihenfolge war. Ein ganz kleiner Makel jedoch bleibt: Eine kleine überschaubare Portion war mir angekündigt worden: „Sie wollen nicht so viel essen? Kein Problem, die Portion ist ordentlich, aber nicht zu groß. Das schaffen Sie schon!“ Fast schon fühlte ich ein virtuelles, joviales Schulterklopfen.
Was aber serviert wurde, war eine gewaltige Menge, die nur deswegen nicht nach so furchterregend viel ausschaute, weil sie auf einem ziemlich großen Aluminiumtablett drapiert wurde. Großes Tablett macht optisch kleine Portionen. Alter Trick.
Tapfer kämpfe ich mich durch das Essen – wohlschmeckend, aber halt viel zu viel.
Um mich herum füllen sich langsam die Tische. Offensichtlich viele Stammgäste. Herzliche und überschwängliche Begrüßungen, Küsschen links, Küsschen rechts. Mein persönlicher Bierempfehler ist gut beschäftigt, hat für jeden einen ganz speziellen und maßgeschneiderten Tipp auf Lager und wird nicht müde, sein Angebot zu preisen. Ein nettes, unterhaltsames Schauspiel, auch wenn ich selbst jetzt nicht mehr Teil der Inszenierung bin.
In der Summe ist es hier gar nicht so ungemütlich, und auch die Bierauswahl ist geschmacklich ausgezeichnet, wenn auch nicht außerordentlich exotisch. Die ein wenig skurrile, aber sehr intensive Beratung und Betreuung hat ihren Reiz und schafft eine lockere, unterhaltsame Atmosphäre, wenn man sich auf das Spiel ein wenig einlässt und es mitspielt. Nett!
Die Dicke Wutz ist täglich ab 12:00 Uhr, sonnabends erst ab 15:00 Uhr durchgehend bis in die Nacht hinein geöffnet; sonntags nur von 10:30 bis 16:00 Uhr. Kein Ruhetag. Zu erreichen ist sie bequem mit der Straßenbahn Linie 11, Haltestelle Schwedlerstraße, von dort aus dann etwa 200 m, also zwei Fitnessstudios und zwei Autohäuser weit, die Hanauer Landstraße entlang.
Dicke Wutz
Hanauer Landstraße 192
60 314 Frankfurt am Main
Hessen
Deutschland
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