Nachtrag 29. Juni 2013: Heute hatte ich erneut die Gelegenheit, die Brouwerij Cantillon zu besuchen. In den Sommermonaten wird hier nicht gebraut, dazu ist das Risiko einer Infektion mit ungewünschten Mikroorganismen bei den hohen Temperaturen einfach zu hoch. Und insofern sah es heute auch wesentlich ordentlicher, aufgeräumter aus – und es ging ruhiger zu. Und trotzdem war es wieder ein wunderbares Erlebnis.
Brasserie Cantillon
In einer hässlichen Straße in Anderlecht, dort, wo man es am wenigsten erwarten würde, findet man die Brouwerij Cantillon. Jeder, der sich mit belgischen Bierspezialitäten schon einmal beschäftigt hat, kennt diesen Namen – sind doch die Cantillon-Biere der absolute Maßstab sowohl für Gueuze als auch für Lambic.
Als das Navigationsgerät am 13. Februar 2010 meldet „Ziel erreicht“, stutze ich zunächst. Das soll die berühmte Brouwerij Cantillon sein? Hier in diesem Stadtteil Brüssels soll die Luft so rein sein, dass der Brauer sich auf das Risiko einer gezielten Infektion seiner gekühlten Würze mit wilden Hefen einlassen kann? Und dieser Prozess soll so wiederholbar sein, dass die Spontangärung wirklich Gueuzes und Lambics von gleichbleibend hoher Qualität garantiert?
der altmodische Maischebottich
Öffnet man die alte Holztür, fallen all diese Zweifel von dem Besucher wieder ab. Innerhalb weniger Schritte unternimmt man eine Zeitreise in die Anfänge des vergangenen Jahrhunderts. Schon auf den ersten Blick sieht man die alten Holzfässer, Flaschenabfüller und sonstigen urigen, ja geradezu historischen Gerätschaften, teilweise mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Brauer und Eigentümer dieser Brauerei, Jean Van Roy, begrüßt die Besucher höchstpersönlich und kredenzt stolz Kostproben seiner Bierspezialitäten.
Fünf Euro kostet ein Rundgang durch die Brauerei und umfasst natürlich auch eine kleine Verkostung im Anschluss. Zwischen allen Gerätschaften, seien es die uralten kupfernen Maische- und Würzepfannen, der Läuterbottich, die Malzquetsche, das kupferne Kühlschiff oder die endlos langen Reihen der großen Holzfässer, darf sich der Besucher frei bewegen. Schläuche, Becher und Gläser stehen herum, als hätte Jean Van Roy nur gerade eben mal das Verkosten, Umschlauchen und Blenden für ein paar Minuten unterbrochen, Lambic-Pfützen schillern auf dem Betonboden, und die Brauerei-Katze flitzt zwischen den Fässern hindurch und sucht nach Beute. Faszinierend.
der Läuterbottich
Noch faszinierender, als wir im oberen Stockwerk ein Loch im Fußboden entdecken und realisieren, wie dünn die Decke ist, die die gewaltige Last der vielen hundert Fässer trägt. Ein wenig unruhig macht es uns schon, und die Phantasie schlägt Purzelbäume, als wir eine Etage tiefer durch die Gänge gehen und an die Fässer über unseren Köpfen denken …
Wieder zurück am Eingang und randvoll mit faszinierenden Eindrücken eines Museums, das gleichzeitig braut (oder war es eine Brauerei, die gleichzeitig als Museum funktioniert?), sehen wir schon Jean Van Roy, wie er auf uns wartet und Kostproben ausschenkt. Drei Biere verkosten wir, das Gueuze, das Kriek und das Rosé de Gambrinus, ein Framboise. Allen drei Bieren ist gemeinsam, dass sie durch die jahrelange Lagerung in den Holzfässern bis zum absoluten Minimum vergoren sind.
die Gärung in uralten Holzfässern
Knochentrocken wandern die Aromen über die Zunge; wo sie auch hinkommen, hinterlassen sie intensivste Geschmackserlebnisse, wahre Explosionen auf den Geschmacksknospen, und nach dem Schlucken verbleibt noch lange ein holziges, leicht säuerliches Aroma am Gaumen haften. Beim Rosé / Framboise paart sich dies mit einer intensiven Säure und kräftigem Fruchtaroma in der Nase, während das Kriek wesentlich holziger rüberkommt und nach einigen Minuten Kontakt mit dem Sauerstoff der Luft beginnt, cremige, die Nase regelrecht belegende Aromen zu erzeugen. Ein geradezu viskoses Geruchserlebnis – oder wie sonst soll ich es beschreiben? Geschmackserlebnisse, wie ich sie bislang jedenfalls noch nicht hatte – eine völlig neue Erfahrung!
Und so reift auch der Entschluss sehr schnell, von allen angebotenen Sorten gleich auch noch je eine große Flasche mit heim zu nehmen. Billig ist‘s nicht, aber jeden einzelnen Euro wert.
Die Brouwerij Cantillon ist täglich von 10:00 bis 17:00 Uhr geöffnet, letzter Einlass ist um 16:00 Uhr. Sonntags und feiertags ist geschlossen. Vom Brüsseler Südbahnhof (Gare du Midi) sind es etwa sieben bis acht Minuten zu Fuß zur Brauerei – man kann sich also die Parkplatzsuche im engen Stadtteil Anderlecht leicht ersparen.
Brasserie Cantillon SPRL
56, rue Gheude
1070 Bruxelles Anderlecht
Belgien
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