Manchmal muss man sich sein Bier vor Ort im Schweiße seines Angesichts verdienen… Eine Anreise mit der Bahn bis Oberstdorf, vielleicht ein kleines Frühstück dort in der Bahnhofsbäckerei, und dann geht es mit dem Bus noch ein paar Kilometer weiter, eine winzige Straße entlang, die als Sackgasse irgendwo in den Bergen endet. Und dann?
Dann folgen noch gute zwei Stunden und 700 Höhenmeter auf kleinen und kleinsten Wegen und Steigen, über Wiesen und durch Wälder, durch kleine Bäche und am rutschigen und schlammigen Hang entlang, bis man dann, endlich!, hinter einer letzten Biegung vor der Enzianhütte steht.
Die Enzianhütte Oberstdorf ist die höchstgelegene Brauerei Europas, und vermutlich wohl auch die abgelegenste, denn sie ist für den Bierliebhaber wirklich nur zu Fuß in zwei Stunden erreichbar.
Enzianhütte, das klingt nach wunderschön gelegenem, aber einsamem und simpel ausgestattetem Unterschlupf, nach Matratzenlager und simpler Verpflegung. Was die Lage anbelangt, stimmt die Erwartungshaltung, was den Komfort und die Ausstattung anbelangt, wird der müde und durstige Wanderer positiv überrascht. Zwei Stockwerke und ein ausgebautes Obergeschoss – allein das Gebäude ist schon beeindruckend.
Im Erdgeschoss eine sehr große Schankstube, die heute, am 11. August 2019, bei bestem Sommerwetter aber völlig leer ist (der Wirt hat nicht mal abgestuhlt, weil bei dem Sonnenschein niemand freiwillig reingeht), und davor eine große Terrasse mit Tischen, Stühlen, Bänken und Liegestühlen. Und mit einem herrlichen Blick ins Tal und auf die gegenüberliegenden Berge. Dazu ein Bier? Ja, natürlich, was denn sonst. Nach diesem Aufstieg ein Bier!
Ein Schild am Nebengebäude weist schon darauf hin: Der Gipfelstürmer. Bier aus der höchstgelegenen Minibrauerei Europas auf 1804 m. Drei verschiedene Gipfelstürmer gibt es: Dunkles Weizen, Helles Weizen und Zwickel. Ich entscheide mich für ein Zwickel und fläze mich erst einmal in einen der Liegestühle. Orangegelb leuchtet das Bier im schlanken Glas, auf dem Label ein Bild vom Gipfelstürmer, der seine unglaubliche Bierplauze mit Sicherheit nicht bis hierher auf die Hütte geschleppt hat. Das Bier riecht aromatisch, leicht malzig, im Antrunk und auf der Zunge ist es leicht süßlich, aber durch eine feine Herbe auch schön erfrischend.
Erst dauert nur wenige Augenblicke, und das Glas ist leer. Die nette Kellnerin bringt rasch Nachschub – diesmal das helle Weizen. Und dazu, ja, ein bisschen hungrig bin ich auch schon wieder, einen leckeren Zwetschgenkuchen.
Optisch sehe ich beim Bier keinen großen Unterschied. Das Weizen ist einen Hauch heller als das Zwickel, aber genauso gleichmäßig trüb und mit dem gleichen schneeweißen und stabilen Schaum. Im Geruch ein paar fruchtige Noten, auf der Zunge etwas spritziger und, natürlich, auch weniger herb als das Zwickel. Ich bin kein Weizenliebhaber, aber dieses hier schmeckt mir gut.
Mit dem Glas in der Hand lehne ich mich im Liegestuhl zurück. Vor mir die in der Sommersonne leuchtenden Berge, kein Lüftchen weht, die Sonne wärmt, die Kühle des Bierglases spüre ich in der Hand, einen leichten Malzgeschmack auf der Zunge. Ich schließe die Augen. Sanft weht eine kleine Brise herüber, und ich rieche die frische Maische des Braukessels, in dem dieses Bier entstanden ist.
Äh, Moment, Maische? Brüden?
Ich öffne die Augen. Nein, ich sitze immer noch auf der Alpe, vor der Enzianhütte, und nicht im Sudhaus. Und dennoch: Es riecht nach Brauerei. Ich schnappe mir mein Glas, und wie ein Hund nehme ich die Witterung auf und folge der Fährte. Ein paar Schritte die Terrasse entlang und dann noch ein bisschen über einen schmalen Weg bis zur Bergstation des kleinen Materiallifts, mit dem die Versorgung der Hütte sichergestellt wird. Hier scheint der Geruch herzukommen.
Ich blicke in den kleinen Schuppen und sehe nur ein Sammelsurium von Fässern, Kartons und Körben neben der Kabine des Materiallifts stehen.
Eine kleine Dampfwolke verrät es schließlich: Hinter der Kabine steht das kleine Sudwerk und dampft tatsächlich gerade vor sich hin. Ein 200-l-Braumeister der Firma Speidel ist es, und der Brauer, es ist der Hüttenwirt Daniel Schwegler selbst, hat vor wenigen Minuten erst das Malzrohr aus dem Topf herausgehoben und lässt die Würze nun abtropfen. Abläutern also, und daher kommt auch der wunderbare Geruch.
Viel zu eng ist es hier in dem Schuppen, als dass ich noch näher herangehen könnte. Aber immerhin: Hier steht eine Brauerei auf 1804 Metern Meereshöhe. Sudwerk, Malz, Gärbehälter – alles ist mit dem kleinen Materiallift hochgebracht worden, und nun entstehen hier rund 100 hl Bier pro Jahr.
Ich gehe wieder zurück auf die Terrasse. Noch ein drittes Bier, das dunkle Weizen vielleicht? Nein, der lange Abstieg liegt noch vor mir, die Sonne knallt, das geht nicht so einfach. Aber ich nehme mir von jeder Sorte eine Flasche mit. Der Rucksack wird zwar schwer, aber das geht schon. Mit 4,50 EUR pro Flasche ist das zwar kein Sonderangebot, aber angesichts des Aufwands, der betrieben werden muss, um das Bier hier oben herzustellen, schon noch angemessen.
Leise klimpern die Flaschen im Rucksack. Bei jedem Schritt werde ich an die kleine Brauerei bei der Enzianhütte erinnert, und zufrieden laufe ich wieder hinunter ins Tal.
Die Enzianhütte ist im Sommer von Juni bis Oktober geöffnet; die genauen Daten werden auf der Website veröffentlicht. Ausgeschenkt wird bis Mitternacht, und natürlich kann hier nach Anmeldung auch übernachtet werden. Zu erreichen ist die Hütte zu Fuß ab der Endhaltestelle der Buslinie 7 in guten zwei Stunden.
Nachtrag 6. November 2019: Heute habe ich erfahren, dass es seit Anfang 2019 in der Lavarella-Hütte in den Dolomiten ebenfalls eine Kleinbrauerei gibt – auf 2050 m Höhe. Damit ist der Pokal für die höchstgelegene Minibrauerei Europas weitergewandert und hat die 2000-m-Marke gerissen. Glückwunsch. Trotzdem bleibt der Aufstieg zur Enzianhütte natürlich ein Erlebnis, und am Geschmack des Biers ändert die neue Rangfolge sicherlich auch nichts.
Enzianhütte Oberstdorf
87 561 Oberstdorf
Bayern
Deutschland
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