Eine Dienstreise, das Nachmittagsprogramm endet überraschend früh, und vor allem: Das System hat der Versuchung widerstanden, durch Überbetreuung wieder alle Abende mit „Social Events“ zuzupflastern. Ich frage mich immer: Was denken die Organisatoren von mir? Dass ich sozial eingeschränkt und nicht in der Lage bin, mich im Ausland an einem freien Abend selbst zu beschäftigen? Muss dann wirklich jeden Abend ein Dinner organisiert werden, mit den gleichen Gesichtern, die ich tagsüber schon zur Genüge gesehen habe und die mir auch am Abend nichts Neues mehr erzählen können? Meistens dann auch noch in abgehobenen Restaurants, in denen keine Chance besteht, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen, weil dort nur Touristen, Expats und Neureiche zu finden sind?
Aber ich will nicht meckern – heute habe ich mich erfolgreich dem sozialen Druck entziehen können und laufe mit einem Kollegen durch die Stadt.
Nach einigen hundert Metern, ein Stück hinter dem Rīgaer Schloss und dem Sitz des Präsidenten taucht mein spätnachmittägliches Ziel auf, die Brauerei Stargorod.
der Schriftzug kommt mir bekannt vor
Schon von weitem kommt mir der Schriftzug an der Mauer bekannt vor, und in der Tat: Stargorod, das ist eine kleine Kette von Gasthausbrauereien im tschechischen Stil. Vor gut acht Jahren habe ich die Stargorod-Brauerei im ukrainischen Lwiw (Львів) besucht, und aus dem Internet weiß ich, dass es noch zwei weitere Stargorod-Brauereien gibt, und zwar in Dnipro (Дніпро) und in Charkiw (Харків). Angesichts der unfassbar brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine möchte ich mir aber im Moment gar nicht vorstellen, wie es den drei ukrainischen Brauereien in Lwiw, Dnipro und Charkiw derzeit geht … Zumindest in Lwiw und Dnipro geht der Betrieb wohl weiter, es finden sich im Netz recht aktuelle Bilder und Facebook-Einträge, aber in Charkiw endet alles, was ich finde, am 19. Februar 2022.
Hier in Lettland, in Rīga, ist natürlich alles ruhig, der Krieg scheint unendlich weit weg – auch wenn er es nicht ist.
Ich schüttle die schweren Gedanken ab, und wir gehen in den Schankraum. Sofort kommt eine junge Dame auf uns zu geflitzt, empfiehlt uns den besten freien Tisch, unmittelbar am Fenster und mit direktem Blick auf die Sudkessel, und dann beginnt sie, herauszusprudeln, wie gut es doch sei, Bier zu trinken, das direkt vor Ort gebraut wird. Frisch, aromatisch, originell und so viel besser als das, was die großen Industriebrauereien herstellen würden. Sie würde uns das Melnais empfehlen, ein schönes, aromatisches Dunkles im tschechischen Stil. „Jeder einen halben Liter?“, beendet sie atemlos und lachend ihren langen Monolog.
„Hm, wie viele verschiedene Biersorten habt Ihr denn?“, fragen wir zurück, bevor wir bestellen. „Fünf!“
„Na, dann ist ein halber Liter wohl etwas viel, wenn wir alle probieren wollen …“, zögern wir.
„Ich kann Euch eine Bierprobe bringen. Fünfmal 0,3 l – dazu ein paar geröstete Sonnenblumenkerne zum Knabbern. Ist das okay? Zweimal eine solche Probe?“
fünf Gläser zu je 0,3 l
Wir nicken, und kurze Zeit später stehen zwei Brettchen mit je fünf Gläsern vor uns. Dazwischen eine Schale mit den Sonnenblumenkernen und … eine Sanduhr. Entschlossen dreht die junge Dame die Sanduhr um: „Die Zeit läuft!“
Wir schauen sie verdutzt an. „Ja, wisst Ihr das denn nicht? Bier hat nur eine Lebensdauer von zwanzig Minuten. Danach schmeckt es nicht mehr. Und die Sanduhr läuft genau zwanzig Minuten lang. Auf geht’s, die erste Minute ist schon um!“ Sie lacht laut und klatscht in die Hände.
Na dann … Wenn das so ist …
Wir beginnen mit dem Desmietnieks, einem 4,5%igen Lagerbier, das dem tschechischen Desítka entspricht – also einem Bier mit 10° Stammwürze. Nichts Aufregendes, aber ein schön schnell wegzischbares Bier. So schnell, dass ich fast vergesse, es zu fotografieren.
Als zweites kommt dessen „großer Bruder“, ein 5,0%iges Lager. Etwas weniger trüb, geschmacklich ein wenig runder und voller, ansonsten aber sehr ähnlich. Auch ein sehr schönes Zischbier. Und insofern ein wenig „untschechisch“, als dass es nicht einmal Spuren von Diacetyl enthält. Keine warme Butter im Bier! Nach all den Jahren, die ich in Tschechien gewohnt und mich an den Geschmack gewöhnt habe, vermisse ich das schon fast. Aber nur fast!
Bier Nummer 3 ist das Dzintara Stricka Aluś, ebenfalls mit 5,0% Alkohol. Es ist benannt nach der „Bier- und Porterbrauerei und Malzfabrik C. Stritzky“, soviel kann ich der lettischen Bierkarte entnehmen. Geschmacklich scheint es mir ein Halbdunkles zu sein, so, wie die Tschechen es als Řezané, also als Verschnittenes, anbieten. Schön würzig und hopfig ist es.
20 Minuten gibt uns die Sanduhr
Die zwanzig Minuten sind mittlerweile natürlich schon um – gar so schnell wollen wir die Biere dann doch nicht hinunterstürzen. Spaßeshalber drehen wir die Sanduhr also um und werden natürlich prompt von unserer Kellnerin „erwischt“, die sich ausschüttet vor Lachen.
Es folgt das vierte Bier, das Sentēvu Dižalus, ein Amber Ale mit 4,6% Alkohol. Angeblich ist es ebenfalls nach einem Rezept der alten Stritzky-Brauerei hergestellt, und es gefällt uns angesichts einiger fruchtiger Noten durchaus gut.
Nach mittlerweile 1,2 l Bier merken wir den Alkohol schon ein wenig – es ist für einen Tester oder eine Bierprobe schon ganz schön viel. Auch vom Volumen …
Ein Bier haben wir noch, das fünfte und letzte. Melnais, also einfach nur Schwarz, nennt es sich, hat 5,5% Alkohol und ist ein sehr gelungenes Beispiel für ein tschechisches Dunkel. Eine feine Röstherbe gepaart mit kräftiger Malzsüße – dieser Kontrast ist in Tschechien beliebt, und ein solches Bier darf in einer tschechischen Brauerei nicht fehlen. Auch nicht, wenn es eine ukrainische Brauereikette und eine Brauerei in Lettland ist …
Ein sehr schöner Abschluss für unsere Probe.
Wir blicken uns in der großen Bierhalle noch einmal um. Ungemütlich ist es nicht, aber zu dieser frühen Zeit mit so wenig Gästen wirkt alles ein wenig kühl, fast schon kahl. Das wird anders sein, wenn Heerscharen von Bierliebhabern hier sitzen und trinken, Stimmengewirr den Saal erfüllt und vielleicht sogar noch Musik gespielt wird.
ein Blick in die große Bierhalle
Für echte Bier-Afficionados ist die Stargorod Rīga – Czech Brewery vielleicht nicht die erste Adresse, echte Nerds sollten lieber in eine gute Craftbier-Bar gehen. Aber für ein großes Bier in uriger Atmosphäre passt es schon. Die Zielgruppe sind halt eher die Volumentrinker als die Bier-Feinspitze.
Fehlt den Bieren auch das Tüpfelchen auf dem „i“, so ist aber der Service ganz vorzüglich – zumindest in Form der Kellnerin, die wir heute erwischt haben.
Die Stargorod Rīga – Czech Brewery ist dienstags bis donnerstags ab14:00 Uhr, freitags bis sonntags ab 12:00 Uhr durchgehend geöffnet; montags ist zu. Zu erreichen ist die Brauerei in zwei Minuten zu Fuß in nördlicher Richtung, wenn man am Sitz des Präsidenten startet. Nicht viel weiter ist der Fußweg von der Straßenbahnhaltestelle Nacionālais Teātris.
Stargorod Rīga – Czech Brewery
Republikas Laukums 1
1010 Rīga
Lettland
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