„Hat der Craftbier-Hype in Berlin etwa schon seinen Zenit erreicht?“
Ich stehe mit Hendrik Sell im Flaschbierschop, einem noch recht neuen Craftbierladen nicht weit vom Senefelder Platz. Hendrik räumt Flaschen hin und her, dekoriert um, und zwischendurch kassiert er, während ich zwischen den Regalen hin und her schlendere und mir das Angebot näher betrachte.
Flaschbierschop
Das Angebot ist extrem vielfältig, und obwohl ich wirklich ständig auf Achse bin und mich durch die Biere der Welt verkoste – was hier in den Regalen steht, davon habe ich vielleicht die Hälfte mal probiert. Und vom Rest sind mir die Brauereien oftmals sogar völlig unbekannt. Ständig poppen neue Brauereien oder Biermarken auf, schneller als die Pilze nach einem lauwarmem Herbstregen in den Kieferwäldern rund um die Hauptstadt.
Knallbunte Etiketten, mehr oder weniger phantasievolle Namen, klassische, exotische und übertrieben kreative Bierstile in buntem Mix. Nicht alles schmeckt wirklich lecker, was hier steht. Viele Brauer springen auf den Zug auf, produzieren Biere in Stilrichtungen, mit denen sie sich nicht wirklich auskennen, bei denen sie den Brauprozess nicht sicher beherrschen. Und das schmeckt man manchmal. Leider.
Oder sie sind gar keine Brauer. Investieren lediglich ihr Geld in eine neue Biermarke. Gut, wenn sie dann einen guten Brauer engagieren und gutes Bier herstellen. Dann soll es mir egal sein, wenn es sich bei der vermeintlichen neuen Brauerei nur um einen Wander- oder Kontraktbrauer handelt. Aber wirklich nur, solange das Produkt auch wirklich lecker ist. Oftmals aber versuchen sich die Investoren dann als Selfmade-Brauer, Autodidakten, mit zweifelhaftem Erfolg. Auf einen wirklich guten, weil talentierten Brauer kommen mittlerweile zwei Bierverhunzer.
Aber gekauft wird alles. Die Bier-Ticker, die jedes neue Bier wenigstens in einem winzigen Schluck verkostet haben müssen, oder die Schätzchen-Jäger, die ein Bier dann mögen, wenn es selten oder exotisch ist. Egal wie es schmeckt.
Craftbier-Hype, eben.
Craftbier-Hype
Und mitten in diesem Craftbier-Hype meine provokante Frage an Hendrik: „Hat er, also eben dieser Craftbier-Hype, in Berlin etwa schon seinen Zenit erreicht?“
Hinter mir, an der kleinen Theke, ist ein Fass mit einem Bier angeschlagen, dessen Verfallsdatum unmittelbar bevorsteht. Es wird umsonst ausgeschenkt, und stattdessen werden Gelder für einen guten Zweck gesammelt (Saturá Impact Hour). Vor mir ein Tisch voller bester polnischer Craftbiere aus der Pracownia Piwa meines Freundes Tomasz Rogaczewski aus Krakau. Anerkannt einer der besten Brauer in Polen. Hier stehen seine Biere im Preis auf 50% reduziert, um sie vor dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums zu verramschen.
Berechtigte Frage also, oder?
„Tja“, zögert Hendrik, stimmt mir aber dann zu. „Die Anzahl der Brauereien wächst im Moment schneller als die Anzahl der Craftbier-Liebhaber. Selbst hier in Berlin.“ Langsam öffnet sich die Schere, und es wird der Moment kommen, zu dem sich die Spreu vom Weizen trennen muss und die weniger begabten und talentierten Brauer und die, die nicht mit Herzblut dabei sind, sondern nur vom Hype profitieren wollen, wieder von der Bildfläche verschwinden werden.
Wie lange es bis zu diesem Moment noch dauern wird? Hendrik zuckt mit den Schultern. „Heute jedenfalls noch nicht“, lache ich, und fülle mir meinen Rucksack mit ein paar Spezialitäten aus der Region. Das Angebot ist gewaltig, ich könnte mehr als nur meinen Rucksack füllen. Vermutlich einen ganzen Kofferraum, wenn ich denn mit dem Auto hier wäre …
ich sehe mich noch einmal um
Ich sehe mich im Flaschbierschop noch mal um. Sorgfältig sortiert, gut aufgeräumt, klar gegliedert. Eine Riesenauswahl, und mit Hendrik steht hier ein Mann im Laden, der zu jedem der Biere auch etwas zu erzählen weiß. Nicht nur Fachsimpelei mit den Stammkunden, sondern fachkundige Beratung auch beispielsweise für das Pärchen, das gerade hereingekommen ist und schüchtern, mit großen Augen unsicher das Angebot sichtet. Schöner Laden!
Der Flaschbierschop ist montags bis donnerstags sowie sonnabends ab 14:00 Uhr geöffnet; freitags erst ab 15:00 Uhr. Zu erreichen ist er am besten mit der U-Bahn Linie 2, er liegt in der Mitte zwischen den Haltestellen Senefelderplatz und Rosa-Luxemburg-Platz.
Flaschbierschop
Fehrbellinerstraße 3
10 119 Berlin
Berlin
Deutschland
Sehr gut geschrieben und ja es wird
spannend in Berlin wenn die Schere
sich nicht nur öffnet sondern auch
wieder schließt.
Danke für das Lob, Heiko.
Ich bin neugierig, wie sich die Schere schließen wird. Durch Anstieg der Anzahl der Craftbier-Liebhaber? Oder durch natürliche Auslese auf Seiten der Anbieter? Warten wir’s ab!
Mit bestem Gruß,
Volker
DIe Zahl der Craftbier-Kneipen und -Läden in Berlin steigt weiter, aber die Zahl der Brauereien stagniert (also „echte“ Brauereien, Biervertriebsfirmen werden weiter gegründet)
Die Faßbierpreise sind 2016 gesunken, weil a) die Berliner Biervertriebsfirmen ihre Kapazitäten auf den Markt bringen, b) externe in Berlin Geld verdienen wollen (z.B. Ratsherrn, Brewdog) und c) günstiges Faßbier aus Polen, Ungarn und den baltischen Staaten angeboten wird. Wohl dem Berliner Brauer, der eine solide Gastronomie im Rücken hat (wie z.B. Rollberg, Esche, H&B). Die Luft wird dünner.
Pubs und Läden leben von der Stammkundschaft. Genau die ist aber, wenn es um Craftbier geht, recht dünn gesät, weil die Community immer auf der Suche nach Neuem ist. Aber in diesm Bereich wir die Schere noch weiter aufgehen, weil viele Bierliebhaber ihr Hobby zum Beruf machen wollen.
Ludger,
in Polen kann man beobachten, dass die Schere sich langsamer öffnet, weil dort die „normalen“ Konsumenten den neuen Bieren und den neuen Stilen und Geschmacksrichtungen gegenüber offener sind als die vom Brauerbund gehirngewaschenen deutschen Otto-Normalbier-Trinker. Dort gründet auch jeder halbwegs begabte Hausbrauer mindestens eine eigene Marke, wenn nicht sogar eine eigene Brauerei, aber Absatzsorgen gibt es dort noch nicht. Ich habe selbst beobachtet, wie ganz normale Stehbiertrinker (um es positiv zu formulieren) im Supermarkt (ja, dort ist es einfacher, mit seinen Nischenbieren gelistet zu werden) Produkte von Kleinstbrauern auswählten, um sie zu probieren.
Mit bestem Gruß,
Volker