Ist das nicht ein etwas merkwürdiger Name für ein Biergeschäft – Der Bier-Rufer?
Ich stehe vor einem kleinen Bierladen, nur fünfzig Meter von der berühmten Krämerbrücke in Erfurt entfernt, und schaue durch das warm leuchtende Schaufenster. Ganz schmal ist der kleine Laden nur, dafür aber ziemlich tief, und die lange Wand links ist von vorne bis hinten mit Regalbrettern bedeckt. Ein Bier steht dort neben dem anderen, eine auf den ersten Blick schier unendliche Auswahl.
Darunter, auf dem Boden, der gewissermaßen das unterste Regalfach darstellt, sehe ich in bunter Vielfalt Bierkästen, -kisten und -kartons. Über 300 verschiedene Biere verspricht eine runde Kreidetafel neben dem Eingang, und ergänzt: „wechselnde Fassbiere“.
Na, das sieht doch sehr vielversprechend aus!
Ich gehe durch die Tür und sehe am gegenüberliegenden Ende eine schmale Theke mit Kasse. Hier kann man seine Beutestücke, die man aus dem Regal gepickt hat, bezahlen und wieder gehen, hier kann man aber auch zwischen vier verschiedenen Fassbieren wählen und ein Glas zum Konsum vor Ort bestellen. Rechts neben der Theke stehen ein paar kleine, runde Tische, und eine schmale Treppe führt hinunter in den Bierkeller, wo es weitere Sitzmöglichkeiten gibt.
Tja, das sieht alles so einladend aus, hier bleibe ich erstmal! Ich studiere die Bierliste und bestelle mir zunächst das Hausbier, das Erfurter Helle. Ein kleines Glas nur, denn der Tag war schon recht lang und bierig. Ich stelle mich an einen der runden Tische, probiere das Bier und bin … nun ja, nicht wirklich enttäuscht, aber auch nicht gerade begeistert. Ein Allerwelts-Helles, das auf keinen Fall so wirkt, als sei es hier, auf der kleinen Anlage, auf der Der Bier-Rufer auch Braukurse anbietet, entstanden. Langweilig und schade.
Aber nun habe ich es schon mal vor mir stehen, und dann kann ich es auch trinken. Und nebenbei, das treibt mich jetzt doch ein bisschen um, einmal nachforschen, warum dieses kleine und gemütliche Biergeschäft mit Ausschank denn nun Bier-Rufer heißt.
Dafür müssen wir ein Weilchen in der Geschichte der Stadt zurückgehen, in die Zeiten, als die Besitzer der großen Bürgerhäuser das Recht hatten, ihr eigenes Bier zu brauen. Nur sie hatten genügend Platz für die notwendigen Gerätschaften, und als sogenannte Biereigen waren sie genossenschaftlich organisiert, um sich nicht gegenseitig unnötig Konkurrenz zu machen. Wann immer sie ein Bier fertig zum Ausschank hatten, ging ein in eine besondere Tracht gekleideter Bier-Rufer durch die Straßen Erfurts und gab bekannt, dass im Hause X ein gutes, junges Bier zu bekommen sei.
Diese Bier-Rufer – jedes Stadtviertel hatte wohl einen eigenen – waren dort, wo sich heute das kleine Bierfachgeschäft befindet, untergebracht. Und so schließt sich im 21. Jahrhundert der Kreis: Das Gebäude wurde wieder einer bierigen Bestimmung zugeführt.
Sten Schmidt, Markus Wiehoff und Michael Bertko haben Anfang 2017 dieses Biergeschäft eröffnet und von Anfang an darauf geachtet, nicht nur Bier zu verkaufen, sondern ein Erlebnis rund ums Bier zu schaffen. So kann man nun eben nicht nur seinen Rucksack mit zahlreichen Flaschenbieren füllen und schwer daran bis zum Hotel oder nachhause tragen, sondern man kann eben auch vor Ort genießen, an Braukursen teilnehmen oder in Bierseminaren und Verkostungen mehr über dieses Getränk erfahren.
Neben den vier Fassbieren werden auch die Flaschenbiere für den Verzehr vor Ort angeboten: Eine große Auswahl steht frisch gekühlt im Kühlschrank bereit und kann dort – Selbstbedienung ist angesagt! – direkt entnommen und getrunken werden.
Mein Glas ist leer, stelle ich fest. Während ich mich auf meinem Telefon über den Bier-Rufer schlau gemacht habe, habe ich unbewusst nebenbei immer mal wieder einen Schluck genommen. Nun, jetzt ist das etwas langweilige Erfurter Hell leer, und es ist Zeit für eine zweite Kostprobe.
Ich entscheide mich für das The Future Looks Bright, ein Black IPA von den Superfreunden mit 6,5% Alkohol. Die Kreidetafel neben dem Kühlschrank informiert über die Herkunft des Biers: „Franken + HH“ steht dort, ein kleiner Hinweis darauf, dass die in Hamburg residierenden Superfreunde ihr Bier im Brauhaus Binkert in Breitengüßbach in Franken brauen.
Das Bier ist durchaus stilecht und kombiniert den hopfigen, kernigen Charakter eines India Pale Ale mit Röst- und Schokoaromen eines Stouts. Kein Bier für den großen Schluck, keines, um den Durst zu löschen, wenn man den ganzen Tag gearbeitet hat und die Zunge am Gaumen klebt. Wohl aber eines für den langsamen, genussvollen Verzehr – Schlückchen für Schlückchen. Und genau so mache ich es jetzt auch. Ich genieße die freundliche, wirklich familiär liebe und nette Atmosphäre im Bier-Rufer, lasse den spannenden Tag in der Stadt gedanklich noch einmal Revue passieren und fühle mich ganz einfach wohl.
Ein schöner Abschluss also für einen schönen Tag.
Nur eines mache ich heute leider nicht: Ich packe mir den Rucksack nicht mit allen möglichen Bierflaschen voll. Eine längere Reise mit dem Auto steht an, Erfurt ist nur die erste Etappe, und wer weiß, wie oft der Wagen in einer überheizten Tiefgarage oder im Frost auf dem Parkplatz draußen stehen wird – dem Bier wird diese Behandlung nicht gut tun, und wenn ich es, einmal wieder zu Hause angekommen, verkosten möchte, werde ich vielleicht enttäuscht sein. So verschiebe ich den Biereinkauf auf ein anderes Mal – vielleicht führt es mich mal wieder nach Erfurt.
Aber ich weiß: Wenn ich erneut hier bin, werde ich auch wieder im Bier-Rufer einkehren – das war wirklich nett heute Abend!
Der Bier-Rufer ist montags bis sonnabends von 14:00 bis 19:00 Uhr geöffnet; sonntags ist Ruhetag. Und je nach Jahreszeit geht es abends auch schon mal länger – zum Beispiel heute, am Vorabend des 1. Advent. Zu erreichen ist das kleine Bierfachgeschäft mit Ausschank in einer Minute zu Fuß von der Krämerbrücke, man geht das westliche Ende der Brücke herunter, biegt rechts ab und ist schon da.
P.S. Ein kleines Post-Scriptum sei mir gestattet. Inzwischen habe ich in dem 1993 erschienenen Buch Noch ein Bier – Reisen zu den Stätten europäischer Braukunst von Conrad Seidl ein bisschen mehr anekdotische Evidenz über den Bierrufer gefunden. Dort heißt es auf Seite 347:
„Der berühmteste Liebhaber des Erfurter Bieres war allerdings der Habsburger-Kaiser Rudolf I. 1290 weilte er für zehn Monate in Erfurt und traf da auf den Biereigen Siffrid von Butstete. Dieser hatte – wie einige andere Erfurter Bürger – ein Braurecht auf seinem Haus und das zur Ausübung des Brau-Privilegs zusätzlich notwendige vom Vater auf den Sohn zu vererbende ‚Biereigen‘-Lehen. Wenn so ein Biereigen (noch 1802 gab es 184 von ihnen) ein Bräu fertig hatte, steckte er nicht nur den Strohwisch aus, er sandte auch einen Bierrufer aus, um die freudige Nachricht den durstigen Kunden bekanntzugeben. Als nun der Kaiser an Herrn Siffrids Haus vorbeikam, bot ihm dieser einen Krug des selbstgebrauten Bieres an. Der Kaiser leerte ihn und ließ sich neuerlich einschenken; dann ritt er mit dem Krug in der Hand die Gasse auf und ab und rief in der Art der Bierrufer: ‚Wol in, wol in. Eyn edel trunk gut Erfords bir hat Siffrid von Butstete uf geton.‘ Es dürfte das allererste mal in der Geschichte der Werbung gewesen sein, daß sich ein Politiker für Bierwerbung eingesetzt hat.“
Der Bier-Rufer
Michaelisstraße 46
99 084 Erfurt
Thüringen
Deutschland
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