Früher waren Bahnhöfe von emsigem Treiben geprägt. Fahrkartenverkauf, Fahrplanauskunft, Stellwerk, Bahnschranken, Bahnsteigaufsicht, Bahnhofsvorsteher, Expressgutabfertigung und Wartesaal fanden sich in imposanten und oftmals eine Kleinstadt prägenden Gebäuden … Heute ist das alles ersetzt durch einen Fahrkartenautomaten oder eine App und ein kleines Wartehäuschen. Der Rest gammelt vor sich hin.
In Leutkirch: Kein Gammel mehr!
Nach und nach besinnen sich die Städte aber, was sie an den zentral gelegenen Bahnhofsgebäuden haben, und nach aufwändiger Renovierung kehrt wieder Leben ein. In Leutkirch zum Beispiel in Form einer Gasthausbrauerei mit überraschend großer Außengastronomie direkt am Gleis: Die Leutkircher Kulturbrauerei.
Das Auto ist schnell weggeparkt (auch per App, genau wie die Fahrkarten), und dann laufen wir über den Bahnhofsvorplatz auf das wirklich sehr schön hergerichtete alte Bahnhofsgebäude zu. Der Eingang zur Brauerei ist unauffällig, und auch einen Schriftzug, der von weitem schon einlädt, suchen wir vergeblich. Wie gut, dass man die kupfernen Sudkessel durch die Fenster schon sehen kann.
das Kupfersudwerk steht hinter Glas
Drinnen erwartet uns ein großer, in drei Abschnitte unterteilter und das ganze Erdgeschoss des Bahnhofs einnehmender Schankraum. Das Sudwerk ist auch von innen nur durch Glasfenster zu sehen, aber trotzdem sehr schön in Szene gesetzt. Zuglaufschilder, Bahnhofsuhren, Eisenbahnleuchten, alte Fotografien und dergleichen Dinge mehr finden sich als ansprechende Dekoration wieder und stellen den Bezug zum alten Bahnbetrieb her, während draußen auf den Gleisen der futuristisch gestylte Eurocity nach Zürich vorbeisaust.
Aber: Es ist gähnend leer. „Kunststück, die sitzen doch alle draußen“, lacht mich die freundliche Bedienung an und weist auf den großen Biergarten hinter dem Bahnhof. Auch hier ein bisschen Deko mit Eisenbahnromantik, allerdings auch quietschgelbe und so gar nicht zum Idyll passende Sonnenschirme der örtlichen Brauerei Farny, die das alkoholfreie Bier und das Kristallweizen zum Bierangebot beisteuert.
übler Bierfrevel auf der Titelseite der Speisekarte
Wir bekommen die Speisekarte und einen großen Schreck: Alle drei Biere, die hier gebraut werden, also das Blonde, das Schwarze und das Weiße, werden auch als Radler angeboten. Und schlimmer noch – sogar als saures Radler, also mit Mineralwasser verdünnt!
Ich muss erstmal ein paar Tränen verdrücken. Eine der größten Biersünden überhaupt, die sich die Schickimicki-Szene da ausgedacht hat. Hier offensichtlich sogar mit so viel Erfolg und Druck auf die Gastronomie, dass man es nicht nur freiwillig anbietet, sondern sogar auf die Titelseite der Speisekarte druckt …
Mich gruselt’s, und ich nicht anders, als die Bedienung zu fragen, wie sich das denn mit der Bezeichnung „Kulturbrauerei“ vereinbaren ließe – mit Kultur hätte das ja nun so was von überhaupt nichts mehr zu tun. Sie verdreht lachend die Augen. „Ach, wenn Ihr wüsstet, was die Leute so alles bestellen … Da ist dann auch ein saures Radler nur die Spitze des Eisbergs!“
Zur Vorspeise, einer Ingwer-Karottensuppe als Tagessuppe, bestelle ich mir das 5,0%ige Blonde und bin ein wenig enttäuscht. Ein leicht brotiger Malzgeschmack und eine unrunde Süße machen auf mich den Eindruck, als hätte das Bier gut und gerne noch ein, zwei Wochen im eiskalten Lagertank verbringen dürfen, bevor es ausgeschenkt wird. Es schmeckt viel zu jung, „grün“ geradezu.
zwei äußerst unterschiedliche Biere
Mit dem ebenfalls 5,0%igen Schwarzen ändert sich das – es schmeckt sauberer, klarer, punktet mit angenehmen Röstaromen und einer angenehm durchtrinkbaren, schlanken Frische. Der „Bad Ass Chimichurri Chicken Burger“ mit Hähnchenbrust, Chipotle Mayonnaise und Chimichurri-Gewürz passt dazu hervorragend, und so bin ich ob des Sauren-Radler-Schrecks und des Grünbiers dann doch wieder versöhnt. Die angenehme Atmosphäre im Biergarten und die Herzlichkeit der Damen im Service – weit und breit kein Mann zu sehen – tun das Ihrige dazu bei, dass wir uns hier rundum wohlfühlen.
Wir halten noch ein Schwätzchen mit unserer Bedienung und erfahren, dass die Brauerei ursprünglich mal zur Barfüßer-Kette gehörte, seit 2019 aber als Leutkircher Kulturbrauerei firmiert. Durch den steten Strom an Fahrgästen der Bahn könne man sich erlauben, keinen Ruhetag zu haben und auch die Küche von mittags bis abends durchgängig zu betreiben. Etwas, das in Deutschland selten geworden ist. Zum Glück habe man dafür auch genug Personal. „Jedenfalls gerade so … Manchmal wird es schon ein wenig eng“, fügt die junge Dame noch hinzu. „Spannend wird es immer dann, wenn ein Zug ausfällt oder viel Verspätung hat und dann jede Menge Gäste mit viel, viel Zeitdruck ganz schnell was zu Essen und zu Trinken haben wollen. Da weiß man dann zum Schichtende, was man getan hat“, lacht sie.
schöne Deko mit Eisenbahnbezug
Für uns ist jetzt auch Schichtende, und wir machen uns wieder auf den Weg. Keine Destination, wo man nur des Bieres wegen eine lange Reise in Kauf nehmen sollte, aber doch eine gemütliche und preiswerte Gasthausbrauerei mit gutem Essen und außerordentlich herzlichem Service.
Die Leutkircher Kulturbrauerei ist täglich von 11:00 bis 23:00 Uhr durchgehend geöffnet; kein Ruhetag. Zu erreichen ist sie perfekt mit der Bahn – sie ist ja im Bahnhofsgebäude untergebracht. Busse halten direkt vor der Tür, und wer mit dem Auto kommt, findet auch genügend – kostenpflichtige! – Parkplätze vor dem Bahnhofsgebäude.
Leutkircher Kulturbrauerei
Bahnhof 1
88 299 Leutkirch
Baden-Württemberg
Deutschland
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