So manche Craftbier-Bar könnte sich am Angebot des Proeflokaal Arendsnest eine Scheibe abschneiden. 50 Fassbiere, über 100 Flaschenbiere – das will erstmal getoppt werden. Und dabei versteht sich das Arendsnest noch nicht einmal als Craftbier-Bar…
Craftbier-Bars sprießen momentan aus dem Boden wie Pilze nach dem Regen. In allen Stadtvierteln eröffnen Bars mit einem halben Dutzend, einem Dutzend oder vielleicht sogar zwei Dutzend Zapfhähnen. Mit viel Geschrei werden sie begrüßt, die lokale Hipsterszene versammelt sich zur Eröffnung, Rauschebärte wohin man sieht, und die obligatorische Kreidetafel hinter der Theke listet zahlreiche India Pale Ales, die von skurrilen Typen hinter der Theke gezapft werden.
Alles prima, und wenn sich die Gelegenheit bietet, bin ich jederzeit gerne mit dabei.
Im Proeflokaal Arendsnest ist es jedoch ganz anders.
Es geht schon los mit der Atmosphäre. Voll ist es, wie in anderen Bars auch, und das Publikum ist eine bunte Mischung aller Altersstufen und sozialer Klassen. Aber hinter der Theke stehen Damen und Herren in schicker Livrée: Schwarze Hose, weißes, langärmliges Hemd, schwarze Weste und schwarzer Binder. Ganz alte Schule. Und sowohl der etwas ältere Herr als auch seine jungen Kollegen strahlen Ruhe und Würde aus. Inmitten des quietschbunten Treibens. Der Typ mit den blaugefärbten Haaren, dem Sidecut und den auffälligen Tattoos wird mit dem gleichen Respekt und der gleichen Ruhe bedient wie der ältere Herr neben mir, der offensichtlich zum ersten Mal in seinem Leben mit einem Smartphone seinen Besuch hier zu dokumentieren versucht und hilflos auf dem Display hin- und herwischt.
Das Proeflokaal Arendsnest, frei übersetzt Verkostungslokal Adlerhorst, gab es schon, da war an die sogenannte Craftbier-Revolution noch gar nicht zu denken. Den Begriff Hipster kannte noch keiner, und Vollbärte und karierte Hemden wurden zwar schon getragen, aber nur von Holzfällern in den kanadischen Wäldern. Peter von der Arend, von dessen Namen der des Lokals abgeleitet ist, wollte eine Bierbar, die sich auf niederländisches Bier spezialisiert. Zu einem Zeitpunkt, wo die belgische Bierkultur die Wahrnehmung der Bierliebhaber dominierte, wo erste spannende Biere aus den Vereinigten Staaten in Europa auf den Markt kamen, wollte er zeigen, dass auch die niederländischen Brauereien einiges zu bieten haben.
Damals schwierig genug – denn von zwei Dutzend verschiedenen Pilsjes lässt sich ein Besucher nicht beindrucken. Aber doch – es fanden sich genügend, auch spannende, Biere, und so wurde die Geschichte des Arendsnest zu einem vollen Erfolg. Anfangs noch mit deutlich weniger Zapfhähnen als heute, und vor allem auch mit dem Ehrgeiz, von jeder der niederländischen Brauereien mindestens ein Bier anzubieten. Es waren seinerzeit gerade einmal 52 …
Mittlerweile gibt es über 400 niederländische Brauereien, und von jeder ein Bier anzubieten, ist unmöglich geworden. Nicht nur wegen der schieren Anzahl, sondern auch, weil viele winzige Hinterhof- und Garagenbrauereien dabei sind, die zwar interessante Biere herstellen, aber deren Biere oftmals sehr schwierig außerhalb des Heimatdörfchens zu beschaffen sind.
Sei’s drum – trotzdem ist das Angebot so vielfältig, wie man es sich nur vorstellen kann.
Ich habe Glück und kann einen Platz an der Theke ergattern. Wie üblich, recke ich meinen Hals und lese in Ruhe die endlos lange Tafel mit dem Angebot. Ja, es gibt auch India Pale Ales hier, und die Sauerbiere, die gerade in Mode sind. Aber daneben ist auch alles andere zu finden, was die Brauerphantasie zulässt: Dubbel, Tripel und Quadrupel. Weizenbiere in Hell und Dunkel. Frühlingsbock, heller Bock, dunkler Bock. Gruitbier ohne Hopfen. Ales und Bitters im englischen Stil. Einfaches Pils, Lagerbier, Helles. Und alle möglichen Experimente. Der einzige gemeinsame Nenner: Sie stammen alle aus den Niederlanden.
Nach einer Weile, kurz vor der Genickstarre, entscheide ich mich zunächst für ein einfaches Pale Ale der kleinen Haarlemer Brauerei Uiltje. Einfach nur ein erfrischendes, aromatisches Bier gegen den Durst. Und ich werde nicht enttäuscht. Hopfig und aromatisch ist es, kein Aromahammer, der auf die Zunge schlägt und sie für Stunden betäubt, sondern einfach nur ein Bier. Es sei mir verziehen.
Im Gegensatz zum Bierangebot sind die Gäste nicht national, sondern international bunt gemischt. Ein fröhliches Sprachengewirr, ähnlich bunt wie die Dekoration in der kleinen, schmalen Bar. Wie fast alle Häuser in Amsterdams Innenstadt ist die Front zur Gracht hin sehr schmal, dafür das Gebäude nach hinten sehr tief, und so wirkt der Schankraum wie ein langer Schlauch. Eine lange, lange Wand also, die viel Platz bietet für bunte, schon leicht angestaubte Deko. Ganz besonders schöne Bierflaschen, ein uraltes Zapfbesteck, Urkunden und Übersichtskarten, in Bilderrahmen präsentierte Zeitungsausschnitte, Bierreklame, Bücher. Allein hier könnte man stundenlang mit den Augen stöbern.
Ein zweites Bier darf es noch sein, und nachdem der erste Durst gelöscht ist, entscheide ich mich kühn für etwas Exotischeres: Für das Jolly Roger, ein Double India Pale Ale mit rotem Pfeffer, gebraut in Kollaboration zwischen Uiltje und der Gulpener Brouwerij. Double IPA, das klingt nach viel, viel Hopfen, viel, viel Bittere, viel, viel Malzkörper und viel, viel Alkohol. Von allem viel. Und genauso ist es. Ein mächtiges Bier, das nur deswegen nicht ermüdend wirkt, weil es durch den roten Pfeffer eine kleine, bissige und aromatische Schärfe aufweist, die Zunge und Gaumen im Überfluss von Hopfen und Malz etwas zum Spielen gibt. Kein Bier, um es in großen Mengen zu trinken, aber eins für den spannenden Genuss.
Draußen geht mittlerweile die Sonne unter. Die wenigen kältefesten Gäste, die bis eben noch auf dem Metallgestühl direkt an der Gracht gesessen haben (Biergarten möchte ich diese Sitzgruppen jetzt nicht unbedingt nennen…), drängen ins Lokal zurück, und es wird noch voller. Die Luft wird stickig, es wird lauter, aber das Team hinter der Theke arbeitet mit unveränderter Ruhe und Souveränität weiter. Stil paart sich mit effizientem Fleiß. Keine Hektik kommt auf, keinem Gast wird durch Geschrei oder Gepansche der Biergenuss verdorben. Und selbst der, der inmitten des größten Gedränges nun noch einen Biertaster mit verschiedenen Sorten haben möchte und dazu ein kleines Käsebrettchen bestellt, wird nicht entnervt angeschaut, sondern genauso würdig bedient wie alle anderen.
Das Proeflokaal Arendsnest – keine echte Craftbier-Bar, keine Hipster, keine amerikanischen Biere. Aber umso mehr ein Muss für jeden Bierliebhaber, der in Amsterdam ein kleines Zeitfenster findet, hier einzukehren.
Unbedingte Empfehlung!
Das Proeflokaal Arendsnest ist täglich ab 12:00 Uhr durchgehend geöffnet; kein Ruhetag. Zu erreichen ist es am besten mit Bus oder Straßenbahn, Haltestelle Nieuwezijds Kolk. Hier halten gut ein Dutzend Straßenbahn- und Buslinien, und es sind vielleicht 150 m Fußweg.
Proeflokaal Arendsnest
Herengracht 90
1015 BS Amsterdam
Niederlande
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