Berlin weit vor Hamburg, Hamburg immer noch deutlich vor München. Was für die Einwohnerzahl der drei größten deutschen Städte gilt, ist gleichermaßen auch richtig, wenn es um die Vielfalt der Bierkultur geht. Berlin ist bunt, abwechslungsreich, kein Trend ist zu exotisch oder albern, als dass er nicht sofort von der jungen Bier- und Brauerszene aufgegriffen werden würde. Hamburg ist weltoffen, aber doch auch hanseatisch-gediegen und wägt ein wenig mehr ab, bevor dann doch gerne auch mal etwas Neues ausprobiert wird, und München … Ach, München … München hat so vieles noch nicht begriffen. Fünfunddreißig Jahre ist mein Studium in München jetzt her, und die Themen, die in der Stadt diskutiert werden, sind nach wie vor die gleichen: Eine zweite S-Bahn-Strecke durch die Stadt und eine Straßenbahn durch den Englischen Garten. Angesichts derer Realisierungszeiträume wirken Verzögerungen bei der Elb-Philharmonie oder dem Flughafen BER doch lächerlich.
Zurück zum Bier, jedoch: Gerade ein paar Wochen ist es her, dass in Hamburg, in schöner Lage direkt am St. Pauli Fischmarkt die ÜberQuell Brauwerkstätten eröffnet haben. Damit wird der Abstand zu Berlin zwar nicht geringer, aber die Szene in Hamburg doch erneut ein wenig bunter.
Die alten Riverkasematten, große Lagerhallen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, massive Ziegelbauten, die schon als Luftschutzkeller, als Edelrestaurant und als Musikklub gedient haben, beherbergen nun eine brandneue Brauerei, und wenn es heißt, sie mache die Szene in Hamburg bunter, dann darf man das durchaus auch wörtlich nehmen.
Wir spazieren am 16. Juli 2017 von den Fischmarkthallen in Richtung Osten, und schon von weitem sehen wir die drei knallbunten Silos, die nun auf dem Hof der Riverkasematten stehen. Sind es Frischwasserbehälter? Malz-Silos? Große Gär- und Lagertanks? Ich weiß es nicht, aber: Sie fallen auf, stechen ins Auge. Noch vor einem Jahr haben sie hier nicht gestanden!
von weitem sichtbar: die bunten Tanks
Rechts von den Tanks erstreckt sich ein Biergarten mit einem zentralen Ausschank in der Mitte. Auch hier: Alles farbenfroh. Bonbonfarben, leuchtfarben, quietschbunt. Egal, ob es die Hinweisschilder auf Selbstbedienung sind, die Wegweiser oder die Bierliste – neongelb trifft auf pink, babyblau auf grellorange. Dazwischen viel robustes Grün in Pflanzkübeln auf grobem Kopfsteinpflaster. Gemütliche Hinterhofatmosphäre kommt auf.
Drinnen in den alten Räumen dann robuste Innenarchitektur. Unverputzte Ziegel- und Betonwände, grobe Tische und Bänke, rund um die Theke solide Holz- und Stahlregale wie in einer Werkstatt, und unter der Decke verlaufen die Installationen offen. Industrial Chic.
Industrial Chic
Wir laufen aus Neugier einmal die ganze Halle entlang, kommen in einen schmalen Verbindungsgang und in einer zweiten Halle wieder heraus. Etwas anders im Stil: Stehtische, ein paar Sitzgelegenheiten entlang der Wände und auf einer Bühne an der Stirnseite, groß und mächtig, den Raum dominierend, das silbrig glänzende Sudwerk. Daneben große Lautsprecherinstallationen. Hier kann man bestimmt wunderbar Party machen.
An der Beschriftung der Zapfhähne wiederholt sich das Farbenspiel von draußen, vom Biergarten. Neongelb, neongrün, pink, knallorange – die Beschriftungen stechen ins Auge. Hier gibt es keine Ausrede, sollte sich eine von den Bedienungen mal verzapfen.
Verzapfen unmöglich!
Wir nehmen an einem der kleineren Tische am Rand des ersten Raums Platz, schauen uns noch einmal um. Auf die altmodisch anmutende weiß-blaue Fliesenwand mit einem Motiv des alten St. Pauli wird über einen Projektor eine bunte Farbanimation gelegt – ein Blickfang, der mich während unseres ganzen Aufenthalts heute faszinieren soll.
So, und was gibt es zu trinken?
Ein paar eigene Biere gibt es schon, die sind allesamt gerade erst frisch eingebraut worden, und daneben einige bekanntere Craftbier-Marken von anderen, „befreundeten“ Brauern.
Wir beginnen mit dem Summer Spring Ale, fruchtig, hopfig und frisch. Gefällt gut und ist mit 4,3% ein idealer Durstlöscher für warme Sommertage, die es auch in Hamburg mal gibt. Das Lieblings Imperial Lager ist dann schon etwas kräftiger mit 6,0%. Weniger fruchtig-spielerisch, als eher geschlossen und schlank. Zwar ebenfalls gut gehopft (sehr schön!), aber mit mehr Tiefe und Eleganz, um es mal metaphorisch auszudrücken. Ist mir ausnehmend sympathisch – davon könnten es gerne auch ein paar Gläser mehr sein!
Jetzt kommt aber erstmal die Pizza. Wir hatten am Nachbartisch die großen Pizzateller schon gesehen und freuen uns auf knusprigen Teig mit aromatischem Belag. Und wir werden nicht enttäuscht. Knallheiß noch, so dass der nette Kellner sich auch beim Servieren die Finger verbrennt, die als Vase dienende Bierflasche auf dem Tisch umwirft und für einen winzigen Moment fast die Contenance verliert. War wohl wirklich ganz frisch aus dem Pizzaofen … Vorsichtig säbeln wir schon große Stücke aus der Pizza, während der Kellner noch den Tisch trockenwischt. Der Käse und das Fett schlagen immer noch frische Blasen; der Teig zerbröselt zwischen unseren Zähnen – so muss Pizzakonsistenz sein. Prima!
Pizza macht zum Glück auch wieder durstig, und so studieren wir noch einmal die Bierkarte, bestellen uns das Palim Palim Pale Ale (nein, keine Flasche Pommes dazu…) und das World White IPA. Ersteres wieder sehr hopfig, fruchtig, leicht harzig, mit 5,3% noch annehmbar leicht und mich persönlich außerordentlich ansprechend, letzteres nicht nur mit dem Wortspiel world white – weltweit glänzend, sondern auch mit feinen Weizenaromen, garniert mit einer ordentlichen Portion … Hopfen!
das Sudwerk
Hopfen ist das Thema hier in den ÜberQuell Brauwerkstätten. Hopfen im Überfluss, aber nicht im Übermaß. Und vor allem: Frischer, aromatischer Hopfen. Nicht einfach nur Bittere bis zum Abwinken, begleitet von käsefuß-artigen Aromen, weil der ach so teure Hopfen vom Vorjahr auch schnell noch mitverbraut werden sollte, sondern frische Hopfenaromen, fruchtige und harzige, grasige und blumige. Kernig und knackig, aber nie kratzig und rau. Wenn das Niveau der Biere so bleibt: Hut ab, dann wollen wir wohl bei jedem unserer Hamburg-Besuche hier wieder einkehren.
Ein schöner Besuch heute, also. An einem Sonntagnachmittag, in der ruhigen Zeit zwischen Mittagessen und Abend. Ein Publikum, das über alle Altersgrenzen hinweg sich hier wohlfühlt, und mit einem Service, der auch im rustikalen Ambiente in Sekunden den Kindersitz für den Enkel aus den Katakomben hervorgekramt hat, stets aufmerksam war und uns rundum verwöhnt hat.
Guter Start!
Die ÜberQuell Brauwerkstätten, im Juni 2017 von den ehemaligen Mitstreitern des mittlerweile schon zum Kult gewordenen Bierhauses Altes Mädchen, Axel Ohm und Patrick Rüther, eröffnet, ist täglich ab 12:00 Uhr durchgehend geöffnet; kein Ruhetag. Zu erreichen ist es mit der S-Bahn, Haltestelle Reeperbahn oder Landungsbrücken, und ein paar Schritte zu Fuß, oder man kommt stilecht mit der Fähre, die in den Hamburger Nahverkehr integriert ist, legt an den Markthallen an und läuft drei, vier Minuten an der Elbe entlang, bis vor einem die bunten Tanks im Hof auftauchen.
Nachtrag 2. Oktober 2020: Am Vorabend unserer Bierschaumlesung im Hamburger Sprechwerk treffen wir uns auf ein Aufwärmbier im ÜberQuell – schließlich haben sich die meisten Autoren des Buchs Unser täglich Bier gib uns heute noch gar nicht persönlich kennengelernt, und es gibt auch noch die eine oder andere Absprache vor der Lesung zu treffen.
die bunten Silos weisen mir den Weg
Schon von weitem weisen die bunten Silos mir den Weg, und rasch habe ich auch die anderen Autoren im Biergarten des ÜberQuell erspäht. Ein kurzes Hallo, verbunden mit einem „Nimm Dir doch auch ein Stück von der Pizza!“ Und verbunden ebenso mit der Frage: „Ist hier draußen Service oder hole ich mir mein Bier selbst?“
Selbstbedienung ist angesagt, und so mache ich mich auf, mir ein Bier zur Pizza zu holen.
Aber ach! Seit einigen Tagen steigen in Deutschland die Infektionszahlen mit SARS-CoV2 wieder merklich an, wir sind alle aufgerufen, uns vernünftig zu verhalten, infektionsträchtige Situationen zu vermeiden, und die Bundesländer, der Hamburger Senat eingeschlossen, haben Vorschriften und Empfehlungen erlassen, wie dies insbesondere in der Gastronomie aussehen sollte. Vorschriften, die so wenig wie möglich in den Freiraum der Menschen eingreifen sollen und gleichzeitig stark auf einsichtiges Verhalten bauen. Die kann man dann unterschiedlich auslegen. Man kann tatsächlich zurückhaltend agieren, selbst mitdenken und überlegen, wo mögliche Infektionsketten entstehen könnten und sich entsprechend verhalten, man kann aber auch auf den Vorschriftenkatalog kucken, die Minimalforderungen herausdestillieren und sich an diesen orientieren. Nur nicht zu viel Vorsichtsmaßnahmen.
Im ÜberQuell scheint man sich an letzterem zu orientieren. Die Tische im Inneren sind vollbesetzt – ob die Gäste da wirklich nur aus wenigen verschiedenen Haushalten kommen oder geschlossene Gruppen sind? Angesichts des gezeigten Verhaltens – man begrüßt sich immer wieder mit Küsschen links, Küsschen rechts – habe ich da meine Zweifel. Bedienungen laufen mit der Maske unterhalb der Nase oder gleich ganz am Kinn zwischen den Tischen hin und her, im Selbstbedienungsbereich bilden sich Schlangen, in denen ein Gast dem nächsten warm in den Nacken haucht.
Wirklich angenehm ist das nicht, zumal die etwas chaotischen Abläufe hinter der Theke dazu beitragen, dass sich die Menschen in der Warteschlange aufstauen, dass sie sich näher kommen als nötig, und als ich beobachte, wie sich ein Gast die Maske bewusst abnimmt, um besser bestellen zu können, und sich die Dame hinter der Kasse der Einfachheit halber mal eben an dieses Verhalten anpasst, habe ich eigentlich schon genug.
Ich nehme mein Bier, bezahle und gehe zurück ins Freie, wo wir mit gutem Abstand voneinander sitzen. Bei diesem einen Bier wird es heute bleiben, ein zweites Mal gehe ich nicht in den Innenraum hinein.
Bier und Buch: Fresh Hop Püls und Unser täglich Bier gib uns heute
Immerhin: Es ist ein ordentliches Bier. Fresh Hop Püls, „mit frischem, ungetrocknetem Tettnanger Grünhopfen gebraut“, wie die Website des ÜberQuell verrät, mit 4,7% Alkohol und mit kräftigen, grasigen und kräuterigen Aromen. Ein schönes Trinkbier, hopfenaromatisch, ohne zu bitter sein, und fernab vom mittlerweile etablierten IPA-Mainstream, der alle hopfigen Biere in einer immer gleichen Fruchtsoße erstickt.
Davon hätte ich grundsätzlich gerne noch mehr getrunken, aber ein zweites Mal mag ich nicht reingehen. Natürlich, formal entspricht das Hygienekonzept sicherlich den noch geringen Anforderungen der Stadt Hamburg, aber in der Um- und Durchsetzung der Maßnahmen hapert es, und ein einsichtiges Verhalten, das wenigstens dort über die Minimalforderungen hinausgeht, wo es keines Aufwands bedarf und eigentlich keine Einschränkung des eigenen Wohlbefindens bedeutet, sehe ich weder auf Seiten der Gäste noch des Personals. Sehr schade.
Da darf sich die Gastronomie dann aber nicht beschweren, wenn in ein paar Wochen wieder alles dichtgemacht wird und nur noch Außer-Haus-Verkauf erlaubt bleibt …
ÜberQuell Brauwerkstätten
St. Pauli Fischmarkt 28-32
20 359 Hamburg
Hamburg
Deutschland
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