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„Sie müssen sich vorstellen, dass alle diese Gerätschaften rund hundert Jahre alt sind“, sagt unser Guide in knorrigem Englisch und streicht mit der Hand fast zärtlich über den Kupferdeckel des alten Maischebottichs. „Sie wurden damals schon gebraucht gekauft!“, fügt er mit bedeutungsschwangerem Kopfnicken hinzu und fragt: „Glauben Sie, da ist schon einmal etwas kaputtgegangen?“
Er beantwortet sich die Frage selbst und schüttelt den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Das einzige, was ständig kaputtgeht, ist unser erst wenige Jahre alter Flaschenfüller – an dem muss jede Woche etwas anderes repariert werden.“
Er holt weit aus. Wir lauschen einer langen Argumentationskette, die ihren Ursprung in guten alten Werten der Nachhaltigkeit und Natürlichkeit nimmt und in einer Suada über die künstliche Scheinwelt von heute, die nur noch vorgaukelt, anstatt wirklich zu sein, endet. „Hier bei uns, in der Brouwerij Cantillon, hier produzieren wir unser Bier noch im Einklang mit der Natur, synchron zu ihrem Rhythmus und nach Methoden, die seit Generationen unverändert sind.“
der uralte Maischebottich hat seine eigene Geschichte wohl schon viele hundert Male hören dürfen
Der Maischebottich, dessen Armaturen so aussehen, als seien sie damals schon aus dem Vollen gefräst worden, war schon oft Zeuge dieser Geschichte, und noch viel öfter reckten sich wohl die Objektive der Kamera in sein Inneres, um mit tausenden von Bildern zu bezeugen, dass es sich wirklich um robuste Technik handelt, die für die Ewigkeit konstruiert ist.
Gerstenmalz und ein gehöriger Anteil an unvermälzter Gerste, Rohfrucht genannt, werden in diesem uralten Gefäß eingemaischt, fleißige Enzyme wandeln bei unterschiedlichen Temperaturen die Stärke aus den Körnern in Zucker um, und schließlich wird die Maische abgeläutert, werden die festen von den flüssigen Bestandteilen getrennt, und letztere schließlich als Bierwürze ein Stockwerk höher gepumpt, in zwei Würzepfannen.
Von außen sehen sie völlig unterschiedlich aus, aber ein Blick unter die kupferne Abdeckung zeigt uns, dass in beiden Pfannen identische kräftige Heizelemente installiert sind, die die Würze wallend zum Kochen bringen. „Einige Stunden kochen wir die Würze“, erklärt uns unser Guide. „Viel länger als in den modernen Bierfabriken, denen es doch nur auf die möglichst sparsame Herstellung, aber nicht um den Charakter ihrer Biere geht.“
zwei völlig unterschiedlich aussehende Würzepfannen
„Und noch einen wesentlichen Unterschied gibt es“, fährt er fort. „Während die Großbrauereien Hopfenpellets oder Hopfenextrakt nehmen, um das Aroma in das Bier zu übertragen, verwenden wir nur uralten Hopfen, zwei oder drei Jahre alt, der schon gar kein Aroma mehr hat. Bei den großen Hopfenhändlern wundern sie sich schon lange nicht mehr, dass wir die überlagerten Reste kaufen, die sonst niemand mehr möchte.“
Um Hopfenaromen geht es bei den Bieren der Brouwerij Cantillon in der Tat nicht, sondern hier kommt es nur darauf an, dass der Hopfen bakteriostatisch, also wachstumshemmend und somit konservierend wirkt. Während des viele Stunden dauernden Kochvorgangs würde sowieso jedes Hopfenaroma ausdampfen, und so „ist es eigentlich völlig egal, welche Hopfensorte wir verwenden“, grinst unser Guide.
Stirnrunzelnd verfolgen wir seine Erläuterungen. Wie hier bei Cantillon gebraut wird, unterscheidet sich grundlegend von allen Prozessen, wie wir sie von klassischen Brauereien kennen, aber Gleiches gilt eben auch für die Biere, die hier entstehen. Lambik und Geuze nennen sich diese Biere, und sie geschmacklich weit von allem entfernt, was wir üblicherweise bekommen, wenn wir irgendwo „ein Bier“ bestellen.
Eine kräftige Säure charakterisiert sie, mal durchaus prägnant und fast scharf, mal eher dezent und cremig weich, aber immer präsent. Hinzu kommen eine gewisse Fruchtigkeit, ein paar ledrige Aromen und, im Fall des Lambiks, das völlige Fehlen von Kohlensäure. Nicht nur, dass ein Lambik keinen Schaum entwickelt, nein, es ist sogar völlig still. Schal geradezu, hätte dieses Wort nicht immer gleich eine solch negative Konnotation.
„Ich kann Ihnen jetzt ein wenig Physik nicht ersparen“, sagt unser Guide und deutet auf ein großes, kupfernes Becken unter dem Dachstuhl des Gebäudes, das Kühlschiff. In dieses große Becken wird die kochend heiße Bierwürze gepumpt. Dicke Dampfschwaden entstehen und die kleine Eingangstür zu diesem Raum wirkt zusammen mit dem großen, kühlen Lagerraum nebenan wie eine Düse. Der sogenannte Venturi-Effekt jagt die Dampfschwaden durch die kleine Tür, den Lagerraum und auf der anderen Seite des Gebäudes wieder hinaus, während durch Lüftungsöffnungen links und rechts neben dem Kupferbecken frische Luft nachströmt. In wenigen Stunden kühlt die Bierwürze auf Raumtemperatur ab.
ein Kühlschiff, wie es so nur noch in ganz wenigen Brauereien auf der Welt verwendet wird
In einer gewöhnlichen Brauerei, wenn eine solche überhaupt noch diese altertümliche Art der Kühlung anwenden würde, würde nun die abgekühlte Würze mit einer speziellen Reinzuchthefe versehen und die alkoholische Gärung nähme ihren Lauf. Ganz anders aber hier bei Cantillon. Die hereinströmende kühle Luft trägt hunderte verschiedene Arten von Mikroorganismen mit sich. Wilde Hefen, Bakterien und Sporen. Jeder Mikroorganismus hat seine eigenen Vorlieben, seine bevorzugte Temperatur, seinen ganz speziellen Stoffwechsel, und so erwacht bereits während des Abkühlens der Würze ein komplexes Leben in ihr – die spontane Gärung, die in dieser Form einzigartig ist.
Nur in der kalten Jahreszeit sei die Luft nahezu frei von bierschädlichen Mikroorganismen, erläutert unser Guide, und daher wird auch nur im Spätherbst und im Winter gebraut. „Und manchmal, so wie dieses Jahr, auch noch Ende April, Anfang Mai, wenn es noch einmal richtig kalt wird“, fügt er hinzu. „Für uns eine willkommene Verlängerung der Brausaison, mit der wir kompensieren können, dass der letzte Herbst viel zu warm war und wir daher viel zu spät erst mit dem Brauen beginnen konnten.“
Er zeigt auf die langen Reihen von alten Eichenfässern. „In diesen Fässern gärt dann das Jungbier aus. Dicke Hefekräusen bilden sich und quellen aus den Spundlöchern. Wenn diese Hauptgärung vorbei ist, werden die Spundlöcher locker verschlossen, und dann beginnt der viele Monate währende Reifeprozess.“
Die unterschiedlichen Hefestämme machen sich über die Nährstoffe in der Bierwürze her. Während die klassische Bierhefe, Saccharomyces cerevisiae, einfache Zucker sehr rasch in Alkohol und Kohlendioxid umwandelt und während dieser Hauptgärung die angesprochenen dicken Hefekräusen ausbildet, hat beispielsweise die Brettanomyces bruxellensis einen völlig anderen, viel langsameren Stoffwechsel. Sie ist in der Lage, auch Komplexzucker zu verdauen, braucht dafür viel länger und produziert völlig andere Aromakomponenten als die Bierhefe. In gemeinsamem Wirken setzen die Hefen im Laufe der Monate alle in der Würze enthaltenen Zucker komplett um – im Resultat hat das Bier nach einem Jahr keinerlei Restsüße mehr, sondern ist knochentrocken. Und, da die Fässer nicht luftdicht verschlossen sind, auch keinerlei Kohlensäure.
Aber die Hefestämme sind nur eine Seite der Medaille, denn es finden sich in der gärenden Würze auch Bakterien, die teils aus der Brüsseler Luft, teils aber auch aus den Poren der Holzfässer stammen, in denen sie sich eingenistet haben. Sie formen eine milde, kremige, aber deutlich spür- und schmeckbare Säure aus und liefern noch eine ganze Reihe weiterer Aromakomponenten, die später das Bier charakterisieren.
Wir laufen an den schier endlosen Reihen von Holzfässern entlang. Jedes einzelne ist sorgfältig mit Kreide beschriftet, aber welche Bedeutung die teils kryptischen Symbole haben, erschließt sich uns nicht.
endlose Reihen von Eichenfässern mit teils kryptischer Beschriftung
Wieder im Erdgeschoss angekommen, lässt uns unser Guide das Bier probieren, so, wie es nach einem Jahr im Fass schmeckt. Still, knochentrocken, leicht sauer, mit ledrigen und gleichzeitig auch fruchtigen Noten. Es schmeckt, aber es ist etwas völlig anderes, als wir gemeinhin unter Bier verstehen. Lambik, so nennt sich das Bier in diesem Stadium.
„Aus diesem Lambik entsteht in einem nächsten Schritt die Geuze“, erfahren wir nun. „Einjähriges, also quasi noch junges Lambik“, er kann sich beim Wort jung ein Grinsen nicht verkneifen, „wird mit zweijährigem und dreijährigem verschnitten, geblendet. Dabei kommt ein wenig Sauerstoff an das Bier, die verschiedenen Mikroorganismen kommen erneut in Wechselwirkung miteinander, und es beginnt noch einmal ein Stoffwechselprozess. Diese Mischung wird auf Flaschen gefüllt, mit Naturkorken verschlossen, der Naturkorken noch einmal durch einen Kronkorken gesichert, und während der dann folgenden Flaschengärung über drei bis sechs Monate bilden sich nicht nur neue Aromen aus, sondern es entsteht auch Kohlensäure, die das Bier, nun Geuze genannt, spritzig machen.“ Wir verkosten einen Schluck Geuze und erkennen den deutlichen Unterschied. Spritziger, lieblicher, weicher. Immer noch weit von einem normalen Bier entfernt, eher mit einem weinigen, sektartigen Charakter, aber viel komplexer.
„Nun, wenn wir das Lambik nicht nur verschneiden, sondern dann in einem separaten Tank mit Früchten mischen – klassisch sind das die belgischen Sauerkirschen, die Krieken, aber mittlerweile macht man das auch mit Himbeeren, Weintrauben, Rhabarber oder eigentlich fast allen anderen Früchten auch – dann beginnt durch dieses Mazerieren ein völlig anderer Prozess“, lernen wir. In mehreren Monaten werden die Früchte durch die Mikroorganismen verstoffwechselt, ihre Aromen gehen in das Bier über, aber die Süße verschwindet völlig. Am Ende erhalten wir ein Bier, das mit frischer Säure und schönen Fruchtaromen erfreut, aber uns auch gleichzeitig überrascht: Die mit den Fruchtaromen üblicherweise einhergehende Süße ist völlig verschwunden und lässt uns irritiert zurück. In Gedanken versunken lassen wir das Oude Kriek über die Zunge rollen, spüren die Säure, ein paar holzige Noten, die von den Kirschkernen stammen, einen Hauch trockener Bittere und eine Komplexität, die uns fast ratlos werden lässt. Was schmecken wir hier eigentlich alles?
Egal, ob Lambik, Geuze oder Kriek – was wir hier und heute probieren, ist meilenweit davon entfernt, was wir sonst als Bier bezeichnen. Wir müssen uns einlassen auf eine völlig neue Geschmackswelt; erst dann beginnt der wahre Genuss.
völlig neue Genüsse: Lambik, Geuze, Kriek
Vor wenigen Jahrzehnten stand diese Art des Bierbrauens vor dem Aus, erfahren wir noch. Cantillon produzierte nur noch winzige Mengen, und es war fast nur die ältere Generation, die diese besonderen und ungewöhnlichen Biere noch goutierte. Was schließlich den Ausschlag gab, dass die spontan vergorenen Biere wieder an Beliebtheit gewannen? Niemand weiß wirklich, was der Funken war, der das Feuer neu entzündete. War es eher eine Nostalgie-Bewegung? Oder war es Michael Jackson, der Beer Hunter aus Großbritannien, der die belgische Bierkultur quasi wiederentdeckte und in seinen Filmen und Büchern darüber berichtete?
Auch wenn vielleicht nicht ganz klar ist, was die Initialzündung wirklich war – aber der ganz große Ruhm ist dem Internet zu verdanken, das die Kunde weiterverbreitete und die spontanvergorenen Biere rasch weltweit bekannt machte. Mit dem Resultat, dass heute über 90% aller Besucher der Brouwerij Cantillon aus dem Ausland kommen und mehr als drei Viertel der Produktion ins Ausland gehen.
Wir stehen noch einen Moment beisammen, lassen unsere Erlebnisse und die gewaltige Wissensfülle unseres Guides Revue passieren. Neben uns sehen wir Jean van Roy, den Eigentümer und Brauer von Cantillon, wie er die Reihen der Fässer entlanggeht, hie und da an ein Fass klopft, eine winzige Probe zieht und schließlich einen Kunststoffschlauch anschließt und einige Liter abzapft. Sorgfältig mischt er die Biere aus den verschiedenen Fässern, von denen jedes einen eigenen Charakter entwickelt und seine eigene Mikroflora beherbergt. Blending nennt sich diese Kunst, und das Ziel ist, ein zwar immer wieder geringfügig anderes, aber stets wohlbalanciertes, prononciertes Bier zu erzeugen – einer uralten Tradition folgend, die beinahe nicht mehr erhalten geblieben wäre.
Die Brouwerij Cantillon ist sich ihrer langen Tradition bewusst und sieht sich fast als ein lebendiges Museum. Während die Produktion ganz normal weiterläuft, dürfen Besucher montags bis sonnabends (außer mittwochs) von 10:00 bis 16:00 Uhr die Brauerei besuchen, mit einem Informationsblatt in der Hand in einer self-guided Tour durch die Gänge laufen und alles erkunden. Im Eintrittspreis ist eine kleine Kostprobe am Ende der Tour enthalten. Mit den Straßenbahnen 51 und 82 kommt man bis zur Station Bodeghem; von dort aus sind es nur wenige Schritte bis zur Brauerei.
Brouwerij Cantillon
Gheudestraat 56
1070 Brüssel Anderlecht
Belgien
Ich habe die Brouwerij Cantillon nicht zum ersten Mal besucht. Einen Bericht über meinen seinerzeitigen Besuch findet Ihr hier.
* Reklame? Es gibt immer wieder Diskussionen, ob die Berichte in meinem Blog als Reklame verstanden werden können. Im Zweifelsfall sollte ein Blogbeitrag also entsprechend gekennzeichnet werden. Daher: Der Besuch der Brouwerij Cantillon wurde mir ermöglicht und gesponsort von #VisitFlanders, der Touristenorganisation für Flandern und Brüssel. Ich sage für diese einzigartige Gelegenheit herzlichen Dank.
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