Jeder kennt das. Die Party hat vor Stunden schon begonnen, man selber war aber leider noch verhindert. Überstunden, Notdienst, Zug verpasst oder Stau auf der Autobahn. Achwasweißich. Jedenfalls kommt man mit gewaltiger Verspätung an.
Alles ist rappelvoll. Es sind mal wieder deutlich mehr Leute gekommen, als man gedacht und eingeplant hat. Jeder Quadratzentimeter ist besetzt, man kann sich kaum rühren geschweige denn, als zu spät Gekommener sich einen guten Platz erkämpfen. Ellenbogenstöße in die Seite, ein Schubser von hinten, ein spitzer Absatz auf dem Vorderfuß. Man quält sich, und alle anderen, die natürlich schon ordentlich getankt haben, empfinden dieses hoffnungslose Gedränge als Superstimmung.
Ach, genauso ist es mir am Winter Beer Day 2016 in den Hamburger Schanzenhöfen gegangen. Fast zwanzig Brauereien hatten sich angekündigt. Aus Hamburg, Berlin und dem Rest der Welt. Dazu ein Stand der Hamburger Hausbrauer, natürlich auch etwas zu Essen auf die Hand, und mittendrin zu allem Überfluss auch noch ein Sänger. Seit zwölf Uhr mittags hatte sich der Innenhof zwischen der Craftbierbar Altes Mädchen, dem Getränkeladen Craft Bier Store und der Ratsherrn-Brauerei genauso gefüllt wie auch die beiden Nebenräume. Seit sieben Stunden waren die Menschen in gleichmäßigem Fluss hereingeströmt, aber kaum einer war bereits wieder gegangen. Und seit sieben Stunden haben die, die von Anfang an da waren, ein Bier nach dem anderen verkostet.
Und dann kam ich. Stocknüchtern. Aber wild entschlossen, noch das eine oder andere exotische Bier zu verkosten, vielleicht mit dem einen oder anderen Brauer auch ein Schwätzchen zu halten, möglicherweise sogar im Gewühl ein paar Bekannte zu treffen.
Fünf Euro Eintritt und ein dicker, blauer Stempel in Form einer Meerjungfrau auf den Handrücken, der mich noch eine Woche später an diesen Abend erinnern sollte. Noch einmal fünf Euro, diesmal Pfand, und ich bekomme ein Verkostungsglas. Den Prospekt mit dem Plan, wo welche Brauerei stehen sollte, gibt es gratis.
Ich nehme den Prospekt zur Hand und versuche, ihn aufzuklappen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Gleichzeitig halte ich mit der zweiten Hand das Probierglas fest, auf dass es mir nicht schon vor dem ersten Probeschluck herunterfallen möge. Mit der dritten Hand halte ich mein Smartphone, um Bilder machen zu können, und mit der vierten betätige ich den Auslöser. In der fünften trage ich das Notizbuch, in der sechsten den dazugehörigen Kugelschreiber, um nur ja kein Bier zu vergessen, das ich verkostet habe, und mit der noch freien Hand versuche ich, mich der drängelnden Mitmenschen zu erwehren.
So, oder ähnlich, fühle ich mich. Mühsam boxe ich mich zum ersten Bierstand durch. Pirate Brew aus Berlin. Andreas und Christipa, die beiden Piraten-Brauer stehen hinter dem Tresen. Ich brülle gegen die Musik des Alleinunterhalters an und bestelle mir ein Porter, bekomme das Glas in die Hand gedrückt und will eben noch schnell sagen, dass wir uns ja schon per Internet kennen würden, und es schön sei, sich doch nun auch einmal von Angesicht zu Angesicht… Aber da rülpst mir auch schon jemand eine alkoholgeschwängerte Wolke ins Gesicht und schiebt mich zur Seite: „Hier wird nicht gelabert, andere haben auch Bierdurst!“
Mit dem vollen Glas in der Hand – das Porter schmeckt durchaus lecker – ist es noch um ein Vielfaches schwieriger, Fotos zu machen. Auf Verdacht betätige ich ein paar Mal den Auslöser und hoffe, dass der alles entscheidende Schnappschuss dabei ist.
Das Glas in meiner Hand leert sich zügig. Ab und an nehme ich einen Probierschluck, aber meistens schwappt im Hin- und Herwogen der Menge einfach nur leckeres Porter über den Rand und verteilt sich irgendwo auf dem Boden.
Ich nehme Kurs auf einen der beiden Nebenräume und fühle mich plötzlich wie in London bei der Besichtigung der Kronjuwelen. Dort wird man auf einem Laufband an den Pretiosen vorbeigefahren, um die anderen, die auch mal kucken wollen, nicht auszubremsen. Man kann weder beschleunigen noch bremsen. Hier gibt es zwar kein Laufband, aber stattdessen werde ich links und rechts eingeklemmt und schwimme langsam, aber gleichmäßig mit dem Strom mit. Halt, da vorne steht Melanie, Fräulein Brauer aus Berlin. Noch bevor ich fragen kann, was es zu Verkosten gibt, heißt es „Alles ist weg, bis auf das Braunbier Brunhilde. Hier!“ Und eine Sekunde später: „Hej, Du bist doch der Volker, oder?“ Aber da ist es schon zu spät – unaufhaltsam zieht mich der Menschenstrom weiter, und das Schwätzchen mit Melanie wird bis auf weiteres doch elektronisch per eMail geführt werden müssen.
Mehrere gefühlte Kilometer später, in Wirklichkeit sind es wohl achtzig Meter, spuckt mich der Mahlstrom wieder aus. Für einen Moment teilen sich die Fluten und ich finde mich am Stand von Philipp wieder – Hops & Barley. Schon wieder Berlin. Bin ich eigentlich in Hamburg, oder was?
„Der Orange-Bock ist alle!“ Kommt mir fast bekannt vor. „Kannst aber noch das IPA probieren, mit Mandarina Bavaria und Chinook!“ Ich tue, wie mir geheißen. Lecker. Aber eigentlich hätte ich schon lieber den Orange-Bock probiert. Mist. Wahrscheinlich schon seit Stunden alle.
„Volker! Was machst Du hier?“ Jörg und Gert fallen mir in den Arm. Für einen kurzen Moment entwickelt sich ein richtiges Gespräch. Wir befinden uns offensichtlich im Auge des Sturms, können still stehen bleiben, und uns sogar gegenseitig hören. Wenn wir laut genug brüllen.
„Ich gehe mal eben auf’s Klo, dann komme ich wieder“, rufe ich wenig später und springe wieder in die stetig sich vorbeischiebende Masse. Vergeblich. Weder erreiche ich das Klo, noch schaffe ich es, umzudrehen und zu Philips Stand zurückzukehren. Stattdessen strande ich für einen Moment bei den Superfreunden. Eine Gruppe junger Craftbrauer aus…
… Berlin.
Woher auch sonst? Hätte ich mir ja denken können. Heute nur Berlin. Deswegen bin ich ja nach Hamburg gekommen.
Ich schnappe mir ein Super-IPA, nehme einen kleinen Schluck und freue mich. Schmeckt prima. „Na? Geil, oder?“, brüllt mich eine unbekannte Gestalt an, haut mir auf die Schulter, so dass der Rest des Biers auf den Boden schwappt, und verschwindet im Gewühl.
Resigniert starre ich auf das leere Glas in meiner Hand.
Nee, für heute lasse ich es gut sein. Es ist eine tolle Veranstaltung, mit tollen Bieren, tollen Brauerinnen und Brauern, aber es ist hoffnungslos überfüllt. Und ich bin durch mein Zuspätkommen viel zu nüchtern, um diese Überfüllung in tolle Stimmung umdeuten zu können. Zumal viele gute Biere schon ausgetrunken sind, die Kreidetafeln schon in großen Teilen ausgewischt oder ausgestrichen sind.
Feierabend. Schluss für heute. Es hat keinen Zweck.
Trotzdem: Tolle Veranstaltung. Ganz bestimmt.
Und nächstes Jahr komme ich früher. Am besten gleich mittags um zwölf!
Winter Beer Day 2016
Schanzenhöfe Hamburg
Lagerstraße 28a
20 357 Hamburg
Hamburg
Deutschland
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