Ehrfürchtig und beeindruckt lauscht der Laie den Apologeten des sogenannten „Reinheitsgebots“, wenn diese wieder über geradezu gotteslästerliche Zutaten wettern und detailverliebt erschütternde mittelalterliche Horrorszenarien entwerfen, in denen die Brauer offensichtlich nur eine Absicht kannten, nämlich durch Verwendung äußerst giftiger Zutaten ihre Gäste und Kunden möglichst rasch ins Jenseits zu befördern. Mit wohligem Gruseln und leichter Gänsehaut vernimmt er diese Botschaft und ist fortan einerseits unendlich erleichtert, dass das Verbot, Reis, Mais, Früchte oder Gewürze zum Brauen zu verwenden oder das Gebot, Hafer-, Weizen- oder Roggenmalz nur für obergärige Biere, keinesfalls aber für untergärige einsetzen zu dürfen, uns vor bösartigen Giftanschlägen, wie sie nur noch in Russland (Skripal! Nawalny!) oder Nordkorea (Kim Jong-nam!) denkbar sind, schützt, und andererseits als guter Untertan auch höchst zufrieden, dass das nur für den Pöbel, nicht aber für den Adel geltende Verbot, Weizen zum Brauen zu verwenden, ob des resultierenden Monopols wahre Massen an Geld in die Kassen des das Weißbierregal besitzenden königlichen Hofs schaufelt.
Zwar ist das alles Unfug, aber Heerscharen von Brauern genau wie ihre Lobbyorganisationen Deutscher Brauerbund und Bayerischer Brauerbund werden nicht müde, die Geschichte von Fliegenpilzen, Ochsengalle und Tollkirschen im Bier immer wieder neu so zu erzählen, dass der Eindruck entsteht, vor dem 23. April 1516 seien samt und sonders alle Biere mit derart scheußlichen und gefährlichen Zutaten gebraut worden.
In Wirklichkeit haben Brauer schon seit Urzeiten mit unterschiedlichen Gewürzen experimentiert, um der tendenziell klebrigen Malzsüße und leichten Säure der historischen Biere angenehme und würzige Geschmacksnoten entgegenzusetzen, den Genuss und die Durchtrinkbarkeit zu erhöhen und die Haltbarkeit zu verbessern. Letzteres, die Haltbarkeit, war es dann wohl auch, die dem Hopfen als alleinig übriggebliebenem Biergewürz zum Erfolg gereicht hat. Fast vergessen wird dabei, dass es vor hunderten von Jahren gang und gäbe war, Biere mit speziellen, streng auf ihre Qualität kontrollierten und durchaus auch hoch besteuerten Gewürzmischungen zu brauen, um durch genau diese Kontrolle sicherzustellen, dass die Brauer eben nicht in Versuchung kamen, potenziell gesundheitsgefährdende Stoffe beizumischen, um Fehlgeschmäcker zu übertünchen, die Rauschwirkung zu erhöhen oder die Haltbarkeit zu verbessern.
Gruitbier aus Lahnstein
Bild: Lahnsteiner Brauerei
Diese Kräutermischungen wurden Grut oder Gruit genannt, von Gruitmeistern, Grutherren oder Grütern überwacht, verwaltet und verkauft, die daraus entstandenen Biere hießen Gruitbiere, und speziell durch Flandern zog sich vor mehr als fünfhundert Jahren noch eine deutliche Grenze, die die Bierwelt in Hopfenbiere und in Gruitbiere teilte.
Dank des sogenannten „Reinheitsgebots“ sind die Gruitbiere mittlerweile fast in Vergessenheit geraten; ihre Herstellung war in Deutschland bis vor kurzem illegal, und Ausnahmegenehmigungen wurden nicht erteilt. Anders in anderen Teilen der Welt, wo insbesondere kleine und innovative Brauerinnen versucht haben, auf historischen Gewürzmischungen basierende Biere zu rekonstruieren oder mit neuen Gewürzen aus der ganzen Welt neue Geschmackserlebnisse zu schaffen.
Markus Fohr von der Lahnsteiner Brauerei hat 2020 in einer kleinen Artikelserie (hier, hier und hier) in der Zeitschrift Brauwelt die Geschichte der Gruitbiere aufgearbeitet und in seiner Brauerei schon seit einigen Jahren immer wieder spannende Gruitbiere hergestellt. Er ist nicht der einzige Brauer, der sich damit beschäftigt, und so ist über die Jahre ein kleines Netzwerk entstanden und der 1. Februar eines jeden Jahres zum International Gruitday ernannt worden – ein Tag, an dem die Gruitbierbrauereien weltweit ihre Biere zelebrieren.
Verkostung im Rahmen des Lahnsteiner Bierseminars
Bild: Lahnsteiner Brauerei
Treibende Kraft hinter dem International Gruitday war die Beaus All Natural Brewing Company in Ontario, die diesen Tag 2013 begründet hat. Mittlerweile braut sie allerdings kein Gruitbier mehr und hat daher auch ihre Aktivitäten bezüglich des International Gruitday eingestellt – was leider auch dazu geführt hat, dass die Domain www.gruitday.com von einer Firma übernommen worden ist, die mit Gruitbier nichts zu tun hat.
Ist der International Gruitday damit gestorben?
Es wäre schade, wenn dem so wäre, aber zum Glück ist das nicht der Fall.
Unter der neuen Domain www.gruitday.beer wurde der International Gruitday zum 1. Februar 2021 neu gestartet – neun Brauereien sind mit dabei, und normalerweise hätten dann rund um den Globus spannende Veranstaltungen, Bierseminare, Verkostungen und Schausude stattgefunden, über die man sich auf der neuen Website fleißig ausgetauscht hätte. Die CoViD-19-Pandemie verhinderte alle Präsenzveranstaltungen, und die Menschen weltweit spürten wenig Lust, sich nur virtuell mit einem Bierstil zu beschäftigen, den sie bisher noch gar nicht richtig kennengelernt haben. Ein Neustart mit gebremstem Schaum also, aber immerhin genau das: Ein Neustart, nämlich.
Und so bot der 1. Februar 2021 vor allem eines: Eine Gelegenheit, die Kräfte zu sammeln und Ideen zu entwickeln, um sie so auf die Schiene zu setzen, dass im kommenden Jahr aus einer kleinen Insiderrunde eine Reihe von Veranstaltungen weltweit geworden sein wird, auf denen die Bierinteressierten das Gruitbier kennen und lieben lernen können, ähnlich, wie es in ganz kleinem Kreis auch schon 2020 in der Lahnsteiner Brauerei auf ihrem Gruitbierseminar der Fall war.
virtuelles Bierseminar
Bild: Lahnsteiner Brauerei
Zwar fand am 4. Februar 2021 ein virtuelles Gruitbierseminar statt, für das sich die Teilnehmer ihre Bierproben vorher im Internet bestellen oder bei der Brauerei abholen konnten, um sie dann gemeinsam vor dem Bildschirm zu verkosten, aber trotz aller Technik und Begeisterung, die auch in einer Videokonferenz geweckt werden kann: Ein echtes Feiern des International Gruitday war das natürlich nicht.
Hoffen wir also auf das Jahr 2022, denn Gruitbier bietet spannende neue sensorische Erfahrungen, neue Gerüche, neue Geschmäcker und ein ganz anderes Biererlebnis, als wir es üblicherweise gewohnt sind. Schauen wir, ob bis nächstes Jahr zu den im folgenden aufgelisteten neun teilnehmenden Brauereien noch weitere hinzugekommen sein werden, und was sie so gemeinsam auf die Beine stellen:
Cambridge Brewing Company
Concept Brewing & Destilling
Gbroi Pia Morgenroth
Gruut – Gentse Stadbrouwerij
Gutshof Rethmar
Jopen
Lahnsteiner Brauerei
Nevel
Scratch Brewing Company
konfrontiert mit neuem Biergeschmack und nachdenklich
Bild: Lahnsteiner Brauerei
Ich selbst habe mich noch nicht systematisch mit Gruitbier befasst, aber schon die eine oder andere Erfahrung mit Kräuterbieren gemacht. Im Oktober 2012 war ich beispielsweise bei der Gruut – Gentse Stadbrouwerij in Gent zu Gast und habe deren Biere genossen, die spannenden Biere von Philipp Overberg, die dieser in seiner Gruthaus Brauerei herstellt, sind mir gut vertraut, in den letzten zwei Jahren habe ich exerimentelle Biere von Jan Kemker aus seiner Brauerei Kemker Kultuur kennengelernt, und nicht zuletzt habe ich auch vor rund acht Jahren im Rahmen von Markus Fohrs Lahnsteiner Bierseminaren das eine oder andere Gruitbier aus seiner Produktion kennengelernt. Wir Seminarteilnehmer waren seinerzeit wohl die ersten, die sich mit diesen Neukreationen aus Lahnstein beschäftigt haben und mithilfe unserer Rückkopplungen den Weg bereiteten für Fohrs Erfolg bei den International Craft Beer Awards, im Rahmen derer er 2015 mit einem mit Minze, Salbei und Wacholder und 2020 mit einem mit einem mit Zitronengras, Anis und Rosmarin gewürztem Gruitbier jeweils eine Goldmedaille holte.
International Gruitday
Lahnsteiner Brauerei GmbH & Co. KG
Sandgasse 1
56 112 Lahnstein
Rheinland-Pfalz
Deutschland
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