Bia Hơi Hà Nội – Cửa Hàng Ngọc Linh
Hà Nội
VNM

Meine Berichterstattung über die Bierszene in Hà Nội wäre nicht vollständig, ach, könnte gar nicht vollständig sein, ohne dass ich etwas über Bia Hơi schreiben würde. All die schönen Gasthausbrauereien wie Hoa Viên, Legend, The Windmill oder AGrill, die tollen Bierbars wie Le Petit Bruxelles, The Moose & Roo oder C-Craft, sie bieten alle wunderbare Biererlebnisse, aber sie richten sich gleichzeitig auch an einen eher elitären Kreis von Gästen – an Bierliebhaber, Freunde des etwas Anderen, etwas betuchtere Genießer.

Wie anders da der Stoff, der die Gesellschaft in Hà Nội zusammenhält, der als Schmierstoff im Getriebe der täglichen Routine dient, als Kitt zwischen den Gesellschaftsschichten, als Grundstoff für Freundschaften, als Zündstoff für Diskussionen, als Grundlage für ein deftiges Mahl, als Erfrischung zwischendurch, als Entschuldigung für eine Rast, als Begründung für einen Spaziergang oder eine Spazierfahrt, als Tröster für einsame Herzen oder ganz einfach als Durstlöscher: Bia Hơi.

Frisches Bier. Nichts anderes bedeutet Bia Hơi. Und das ist wörtlich zu verstehen. Egal, ob es die große Bierfabrik von Habeco (Hanoi Beer Alcohol and Beverage Joint Stock Corp.) ist oder eine kleine, halblegale Hinterhofbrauerei – das Bier wird produziert, nur kurz gelagert, bis es seine beste Qualität erreicht hat, und dann frühmorgens auf Fässer gezogen, die am gleichen Tag geleert werden. Geleert werden müssen. Keine Pasteurisierung, keine Konservierungsstoffe, keine Ultrafiltration, keine sonstigen übertriebenen Hygienemaßnahmen, um das Bier haltbar zu machen. Ein Bia Hơi, das nicht am Tag seiner Abfüllung getrunken wird, hat seinen Beruf verfehlt. Frisches Bier im wahrsten Sinne des Wortes.

Und so verlassen jeden Morgen hunderte von Lieferwagen die Brauereien in Hà Nội, bringen die großen, bis zu 100 l fassenden Stahl-KEGs in die Stadtteile, wo sie auf Mopeds umgeladen und im Gassengewirr der Stadt weiter verteilt werden.

In jedem Block gibt es mindestens einen Ausschank, an manchen Kreuzungen sogar an allen vier Ecken jeweils einen. Bia Hơi steht groß dran, und das Geheimnis besteht darin, die vorgekühlten KEGs so, wie sie angeliefert werden, zu nehmen, auf großen Eisblocks oder in selbstgebastelten Kühlmänteln kalt zu halten und möglichst schnell auszuschenken. Aufstellen des KEGs, anzapfen, ausschenken, austrinken – oftmals dauert es nur wenige Minuten, bis es leer ist, und entweder steht in den größeren Schänken dann schon ein zweites bereits, oder es dauert einen kleinen Moment, bis der Lieferant mit dem Moped das nächste Fass anliefert.

Ausgeschenkt wird mit einem PVC-Schlauch ohne Druck. Das KEG wird einfach auf den Kopf gestellt, das Bier laufen gelassen. Getrunken wird aus simplen Gläsern. Leicht grünlich-türkis schimmerndes Recycling-Glas, das Altglas billig und schnell eingeschmolzen und zu Gläsern gepresst. Luftblasen im Glas? Kleine Haarrisse? Unregelmäßigkeiten? Völlig egal, ein paar Runden wird das Glas schon aushalten, und wenn es beim Zuprosten dann doch einmal zerspringt, werden die Scherben rasch weggefegt, und der Schaden ist nicht der Rede wert. Eichstriche? Was soll das denn? Das Glas ist voll, wenn kein Bier mehr reinpasst. Und in einem echten Bia-Hơi-Ausschank bestellt man nicht einen halben Liter oder 300 ml, sondern ein Glas. Es sieht doch jeder, wie groß die Gläser sind. Und wem es zu wenig ist, der bestellt halt noch eins. Oder zwei. Und genauso schnell, wie es eingeschenkt worden ist, ist das Glas auch schon wieder ausgetrunken.

Wir schlendern am Westrand der Altstadt entlang, an der Kreuzung der Straßen Bát Đàn und Đường Thành, rechts von uns ein kleiner Ausschank, und diagonal gegenüber ebenfalls. Beide sind brechend voll. Wie immer. Dicht an dicht stehen die winzigen Plastiktischchen und -stühlchen, die selbst für unseren zweijährigen Enkel zu klein erscheinen, aber um sich hinzuhocken, die Knie an den Ohren, und das Bier zu trinken, dafür reicht es. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie im Bia Hơi Hà Nội – Cửa Hàng Ngọc Linh gerade eines der Tischchen frei wird, und blitzschnell hocken wir uns hin. Wir haben sogar ein Luxustischchen erkämpft, mit richtigen Stühlchen, nicht nur Hockern. Für uns Europäer immer noch viel zu klein, aber immerhin gehen die Knie nun nur bis zur Brust und nicht bis an die Ohren.

Wir haben noch nicht richtig Platz genommen, als bereits zwei türkisfarbene Gläser vor uns stehen, frisch gefüllt, der Schaum rinnt langsam über den Rand. Wir nehmen rasch einen Schluck. Das Bier ist leicht und erfrischend. Ein ganz schwaches Hopfenaroma nur, auf der Zunge weich und süffig, ein bisschen süßlich, kein Körper, aber viel Kohlensäure. Ein sauberer Abgang, und nur ein Hauch von Bittere, gerade so viel, dass es Lust auf den nächsten Schluck macht.

Bia Hơi hat nur wenig Alkohol, irgendwo um die drei Prozent, aber im Gegensatz zu manchem europäischen Leichtbier mit seinem Geschmack, der an nassen Karton erinnert, passt hier im Bier alles harmonisch zusammen. Die Leichtigkeit, die Frische. Auch die viele Kohlensäure lässt es nicht überspundet wirken, sondern einfach nur erfrischend zischen. Das Glas ist blitzschnell leer, und genauso schnell steht wieder ein volles vor uns.

Die junge Bedienung schiebt ein großes Tablett mit vielleicht zwanzig oder dreißig Gläsern vor das Fass, der junge Mann, der dort auf einem Hocker sitzt, unterbricht das Spiel auf seinem Telefon, nimmt den Daumen vom PVC-Schlauch, und eine Minute später sind alle Gläser randvoll mit frischem Bier. In Windeseile werden sie am Bürgersteig entlang verteilt. Jeder Gast, der nicht ausdrücklich abwehrt, bekommt ein neues Glas, beeilt sich, sein angefangenes altes Glas zu leeren, um nur ja keinen Schluck zu verpassen. Wer glaubt, auf dem Münchner Oktoberfest würde schnell getrunken, muss sich hier eines Besseren belehren lassen.

Die frischen Biere lösen die Zunge und machen Kontakte einfach. Vom Nachbartisch erschallt ein fröhliches „Prost!“ und die Frage „Kommt Ihr aus Deutschland?“ Soan stellt sich uns vor, stellt ein frisch gezapftes Glas Bia Hơi auf unseren Tisch. „Ich habe sieben Jahre in Schwerin gearbeitet. Lederwaren. Eine tolle Zeit, aber schon lange her!“ Er stößt mit uns an, wir leeren das Glas in einem Zug.

Die Bedienung stellt frisches Bier bereit. „Ich würde gerne mal wieder nach Deutschland, nur ein paar Tage, um zu sehen, was sich verändert hat!“ Das nächste Glas wird geleert, das übernächste frisch auf den Tisch gestellt.

„Du wirst Dich wundern“, sage ich, „fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit.“ Wir leeren unsere Gläser, frische werden serviert.

„Ja, damals war es die noch DDR. Sozialismus in Deutschland und Sozialismus in Vietnam. Vieles hat sich bestimmt völlig geändert, seitdem“, sagt Soan, und wir trinken unser Bier aus. Dass sofort ein neues bereit gestellt wird, brauche ich nicht zu erwähnen…

„Hà Nội ist bestimmt auch ganz anders, als es damals war“, sage ich, schiebe ein Lob an die spannende und interessante Stadt hinterher, stoße an und leere mein Glas.

Eine ganze Weile geht die Unterhaltung so weiter. Nach jedem Satz ein bekräftigendes Prost, ein großer Schluck, ein neues Bier.

Gefühlte dreißig Biere später, vermutlich waren es aber nicht mehr als fünf oder sechs, muss Soan weiter. Ein letztes Glas auf den Abschied, er müsse jetzt leider wieder arbeiten, und er wendet sich ab. Die Bedienung drückt uns noch ein weiteres Bier in die Hand, für auf den Weg, gewissermaßen, und Soan schwankt zufrieden auf die andere Straßenseite. Mit großen Augen sehen wir ihm nach, wie er sich ans Steuer seines klapprigen Tuk Tuk setzt und davonfährt.

Bia Hơi – offensichtlich nicht nur Genussmittel, sondern auch eine Art Treibstoff, und wir fragen uns, ob der Fahrer des Tuk Tuk nicht mehr Liter auf hundert Kilometer benötigt, als sein altes Gefährt.

Ein allerletztes Glas können wir nicht rechtzeitig abwehren, und dann verlangen wir nach der Rechnung. Die Strichliste auf dem kleinen Zettelchen ist schier unendlich lang, aber die Rechnung lächerlich niedrig. 10000,- Đồng, etwa 40 ct kostet ein Glas Bia Hơi, und wir beginnen, zu verstehen, wie dieses preiswerte, erfrischende Alltagsgetränk die Menschen in Hà Nội verbindet.

Das Bia Hơi Hà Nội – Cửa Hàng Ngọc Linh gehört zu den etwas größeren, etwas besseren der Bia Hơi Schänken und bietet teilweise auch richtige Stühle statt nur Hocker. Neben dem Bia Hơi gibt es auch gute vietnamesische Speisen, die wir bei unserem Besuch aber – leider! – nicht probiert haben. Geöffnet ist eigentlich immer, und zu erreichen ist es entweder in etwa zehn Minuten zu Fuß vom Nordrand des Sees Hồ Hoàn Kiếm oder mit dem Taxi für kleines Geld.

Bilder

Bia Hơi Hà Nội – Cửa Hàng Ngọc Linh
2 Đường Thành
Phường Cửa Đông
Quận Hoàn Kiếm
10000 Hà Nội
Vietnam

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