Fährt man in Flensburg Handewitt auf die Autobahn und gibt in sein Navi die Adresse Maria Hilfer Straße 17 in Speiden ein, bekommt man die freudige Nachricht: „Folgen Sie der Straße für 955 km!“ Und dann sind es nur noch fünf Minuten bis zum Mariahilfer Sudhaus, dem Kössel-Bräu. Eigentlich also ganz einfach zu finden.
Wir sind gerade aber nicht in Flensburg gestartet und haben uns auf die A7, die wohl längste Geradeaus-Strecke in Deutschland, begeben, sondern sind im Allgäu mitten in den Voralpen gestartet. So dauert es nicht annähernd so lang, ist dafür aber auch mit deutlich häufigerem Abbiegen, mit Herumkurven und mit einigen Kreisverkehren gespickt. Irgendwann aber sehen wir tatsächlich das Ortsschild kommen, in das winzige, zu Eisenberg gehörende Dörfchen Speiden.
Eine Handvoll Häuser nur, und mittendrin ein hübsches, mit dem Mittelgiebel fast an ein altes Bahnhofsgebäude erinnerndes Ziegelhaus: Die Brauerei.
Irgendwann im 17. Jahrhundert hat hier die Brauereitradition begonnen, und das nette Ziegelgebäude wurde 1897 errichtet. Der auffällige Mittelgiebel beherbergte wohl die Malztenne. Mit einem Flaschenzug wurden außen die Malzsäcke hochgezogen und dann oben gelagert, bis das Malz am Brautag von oben in den Maischebottich geschüttet wurde. Typische, geradezu klassische Brauerei-Architektur, und noch heute sehen wir den Balken aus dem obersten Stockwerk ragen, an dem der Flaschenzug befestigt ist.
Bis 1963 wurde hier gebraut, dann legte ihr Besitzer, Otto Stolz, die Brauerei still.
Das Gebäude wurde unterschiedlich genutzt, aber nach fast drei Jahrzehnten wurde 1992 durch Anton Kössel der Brauereibetrieb wieder aufgenommen. Das Mariahilfer Sudhaus erwachte wieder zum Leben. Rasch wurden die Biere in der Region beliebt, und der Braubetrieb lief so erfolgreich, dass 2016 sogar ein komplett neues Sudwerk der Firma Kaspar Schulz installiert werden konnte.
Während ich mir all diese Informationen auf meinem schlauen Telefon zusammengesucht und gelesen habe, hat meine holde Ehefrau unser Auto auf dem Parkplatz abgestellt, und nun stehen wir vor dem Eingang der Brauerei. Durch die hohen und schmalen Fenster sehen wir das Sudwerk schon kupfern glänzen.
Hinter der kleinen und unauffälligen Eingangstür führt uns eine kurze Treppe am Sudwerk vorbei in den Schankraum. Kleinteilig und anheimelnd, alte und robuste Holztische und Bänke, alles sehr urig und einladend. Und vor allem: Jetzt, am frühen Nachmittag, in der toten Zeit zwischen Mittag- und Abendessen, trotzdem rappelvoll. Stimmengewirr, lautes Lachen, dampfig-warme Luft, während es draußen eisig kalt ist. Urgemütlich.
Wir setzen uns an einen Tisch mit dazu und werfen erstmal einen Blick in Richtung Theke. Sieben verschiedene Biere sind mit Kreide an einer Tafel angeschrieben, und ich seufze: Da habe ich ja ein strammes Programm vor mir. Ich bestelle mir ein kleines Vollbier und sehe mir den Rest der Theke an. Ein ungewöhnliches Konzept für ein Allgäuer Wirtshaus: Die Getränke werden an den Tisch gebracht, das Essen aber muss sich der Gast selbst an der Theke bestellen und holen – fast, wie in einer Kantine, nur viel gemütlicher. Aber so ist es möglich, dass eine junge Dame allein den ganzen Schankbereich bedienen kann: Biere, Kaffee, Limonaden oder Tee: Sie wuselt emsig vor sich hin, jeder bekommt sein Wunschgetränk an den Tisch.
An der Speisenausgabe bildet sich eine kleine Schlange. Gar zu lecker liest sich die Auswahl, und der eine oder andere Gast, der mit festem Vorsatz nach vorne gekommen ist, nur eine Kleinigkeit zu bestellen, überlegt es sich im letzten Moment anders und kommt mit einem riesigen Krustenbraten oder einer gewaltigen Schweinshaxe wieder an seinen Platz zurück, nur um sich dort dem großen Hallo und den spöttischen Sprüchen seiner Tischgenossen auszusetzen: „Na, konntest Du doch nicht widerstehen?“
So geht es leider auch mir, und statt des kleinen Tellerchens mit etwas Leberkäse balanciere ich eine große Platte mit einer mächtigen Haxe und viel, viel Sauerkraut zu meinem Platz zurück.
Das bernsteinfarben leuchtende Vollbier, ein malziges und kräftiges Märzen mit 4,8%, passt dazu perfekt. Kräftiger Geschmack, rundes und volles Aroma. Alles stimmt!
Das zweite Bier, der Meistersud, ein hellgelbes Helles mit 5,4% Alkohol, fällt demgegenüber leider ein wenig ab. Vielleicht ist es einfach nur die falsche Reihenfolge, die dieses Bier nach dem intensiven Vollbier ein wenig wässrig wirken lässt – trotz des etwas höheren Alkoholgehalts. Schlecht ist es natürlich trotzdem nicht – ein schönes Zischbier, um die Haxe und das Kraut herunterzuspülen.
Wir genießen die nette Mischung an Gästen. Einheimische, Touristen, alle Altersklassen sind vertreten. Ganz positiv anzumerken: Es läuft keine Musik. Statt also gegen irgendwelche Bässe und Beats anbrüllen zu müssen, können wir uns wunderbar mit unseren Tischnachbarn unterhalten. Dadurch, dass es hier so voll ist und sich jeder irgendwie an einen der großen Tische dazusetzen muss, kommt man automatisch miteinander in Kontakt.
Mit den süffigen Bieren hat man auch sofort ein Thema, über das man sich austauschen kann. Zum Beispiel über das Schwarze Madonna, 5,5% Alkohol, leicht cremefarbener Schaum, feiner, röstiger Duft und ein ebenfalls schön ausgewogen röstiges Aroma, das frisch und appetitlich in die Nase steigt und den Gaumen erfreut. Im Abgang bleibt nur wenig Bittere; stattdessen spürt man nach dem Schluck noch den feinen Röstaromen hinterher.
Mittlerweile habe ich von der netten Kellnerin in Erfahrung bringen können, dass sämtliche angepriesenen Weizenbiere nur in Flaschen erhältlich sind, einschließlich des Weizenbocks, so dass der Schrecken, sieben Biere verkosten zu müssen (in Wirklichkeit wären es noch mehr gewesen, denn Position 7 lautete „Weizenbiere“, also Plural und schloss Hell wie Dunkel mit ein…), gar keiner mehr sei. Ein viertes kleines Bier noch, und ich hätte alle Fasssorten durchprobiert; den Rest könne ich gerne in Flaschen mit heimnehmen und dort in den nächsten Tagen in Ruhe genießen.
Und genau so machen wir es auch. Bier Nummer 4, der Katharinenbock, erweist sich als genialer Abschluss des heutigen Besuchs. Wunderbar weich, fast schon kremig. Mild und süßlich, rund und ausgewogen, und vor allem: Ungeheuer süffig. Mag sein, dass die schöne Atmosphäre hier im Schankraum mein Urteil etwas subjektiv macht, aber hier und heute ist dieses Bier locker fünf Sterne wert. Höchstwertung!
Einmal noch gehe ich am Sudwerk vorbei und bemerke dabei auch die oberhalb des Sudwerks stehende Destille. Auf ihr entsteht hier ein 42%iger Bierbrand, frisch aus dem Mariahilfer Bier destilliert.
Direkt gegenüber der Brauerei, im Nachbargebäude, befindet sich in einer ehemaligen Gastwirtschaft nun ein kleiner Bierladen. Alle im Kössel-Bräu gebrauten Biere können hier in Flaschen erworben werden, der Bierbrand natürlich auch, und es gibt auch ein paar Souvenirs rund ums Bier. Insgesamt neun verschiedene Biersorten sammle ich mir aus den Regalen und Kästen zusammen – da werde ich zuhause noch einiges zu probieren haben. Der einzige Wermutstropfen: Ausgerechnet der wunderbare Katharinenbock, den ich gerade so genossen habe, ist nicht in Flaschen erhältlich. Zu schade – davon hätte ich gerne mehr als nur eine Flasche mitgenommen…
Aber auch so bleibt das Kössel-Bräu in allerbester Erinnerung, und schon beim Einsteigen ins Auto konstatiert meine Frau: „Also, hier waren wir bestimmt nicht das letzte Mal!“
Das Kössel-Bräu – Mariahilfer Sudhaus ist mittwochs bis freitags ab 15:30 Uhr, sonnabends und sonntags bereits ab 11:00 Uhr durchgehend geöffnet; montags und dienstags ist Ruhetag. Man kann mit der Bayerischen Regiobahn bis zum Bahnhof Weizern-Hopferau kommen und dann eine kleine Wanderung bis zur Brauerei machen, aber durch die abgelegene Lage ist das eigene Auto wohl ausnahmsweise die bessere Wahl. So man den einen Fahrer oder eine Fahrerin hat.
Kössel-Bräu – Mariahilfer Sudhaus
Maria Hilfer Straße 17
87 637 Eisenberg / Speiden
Bayern
Deutschland
Das erste Mal bin ich kurz nach der Gründung auf die Brauerei gestoßen, als ich am Kiosk beim Lechfall die Bügelverschlußflaschen vom Kössel sah. Was für ein Glück, daß die Brauerei ohne weiten Fußweg per Bahn erreichbar ist. Für mich die fundierteste Neugründung einer Brauereigaststätte. Ohne Spinnereien und doch nie langweilig. Übrigens die erste Neugründung im Allgäu von inzwischen 20 neuen Brauereien.
„doch nie langweilig“? Oh, das kann ich mir vorstellen, Gernot. Hier herrscht exakt die Atmosphäre, die alles immmer vertraut erscheinen lässt, ohne dass man dessen rasch überdrüssig werden würde. Ich freue mich jedenfalls schon auf den nächsten Besuch.
Mit bestem Gruß,
VQ