Officina della Birra
Bioggio
CHE

„Irgendwie kommt mir die Adresse bekannt vor“, denke ich, als unser Bus in Bioggio vor das Officina della Birra fährt. „Na klar“, fällt mir nach kurzem Nachdenken ein. „Vor knapp neun Jahren war ich doch schon mal hier, in der Birrificio di Bioggio!“ Eine kleine Gasthausbrauerei. Ganz nett, mit ansprechenden Bieren, freundlichem Service und hübschem Ambiente. So langsam kommen die Erinnerungen wieder.

Das aber, was wir jetzt beim Betreten des Verkostungsraums sehen, passt überhaupt nicht zu dem beschaulichen Bild meiner Erinnerungen. Statt klassischer Gasthausbrauerei begegnet uns jetzt modernste Braukunst – selbstbewusst, innovativ, experimentierfreudig. Und da wir uns als größere Gruppe von Bierliebhabern, die an der Bierreise Tessin 2022 teilnehmen, angekündigt haben, werden wir nicht nur mit Bier, sondern auch mit Speisen beeindruckt.

Aber nach und nach:

der Bottleshop

Wir betreten den Bottleshop, und werden von Eric Notari, dem Brauer und Gründer, seinem Sohn Lucio Notari und dem Biersommelier Davide Manara herzlich empfangen. Während wir schon um die Ecke schielen und ein Wurst- und Käsebüffet sehen, das den Begriff Apéro, mit dem in der Schweiz ein paar Getränke mit ein paar Häppchen bezeichnet werden, ins Extrem dehnt, drückt uns Davide jedem eine Flasche Bier in die Hand. Gerne zum direkt aus der Flasche trinken, um den ersten Durst zu stillen. Auf Wunsch allerdings auch mit Glas: Animals Pivo – 32 Swiss Hockey Beer, 4,6%. Ein Lagerbier im tschechischen Stil, benannt nach einem Eishockeyteam, und gedacht zum schnellen Wegexen.

Schnelles Wegexen ist allerdings auch zweckmäßig, denn unsere Gastgeber drängen schon: Auf geht’s, ins Sudhaus! Presto!

Restaurantbetrieb und Brauerei sind mittlerweile wirtschaftlich voneinander getrennt worden, die alte (kleine) Brauerei wurde durch eine neue und viel größere ersetzt (die alte steht als Dekorationsstück so, dass sie vom Restaurant aus durch die großen Glaswände gesehen wird), viele neue (und größere) Lagertanks sind hinzugekommen, und in einem exklusiven Bottleshop werden die hier gebrauten Biere standesgemäß angeboten.

Wir stehen zwischen Lagertanks und Sudwerk. Es hat sich nicht nur viel seit meinem Besuch vor neun Jahren hier verändert, sondern wir erfahren, dass sich auch weiterhin viel verändern wird. Mehr Tanks, mehr Biere, noch mehr Pläne. Eric und Lucio, die uns alles bis ins Detail zeigen und erklären, sprühen vor Ideen und dazugehöriger Energie. Hier herrscht – Pandemie, Ukrainekrieg, Wirtschaftskrise hin oder her – eine tolle Aufbruchsstimmung.

Während wir noch mit großen Augen umherschauen, wird ein großer Pitcher aus dem Lagertank gezapft: „Das ist unser ‚Good Wolf‘. Eigentlich noch viel zu grün, um es zu zwickeln, aber Ihr wisst das wohl einzuordnen, oder?“ Nickend trinken wir das Jungbier, das noch fast wie Bierwürze schmeckt.

Zwickelprobe

Und noch ein zweites gezwickeltes Bier wird schnell hinterhergeschoben, das Lisbeth, ein India Pale Ale. Schon deutlich reifer und damit auch schon viel schmackhafter und bierähnlicher.

Nach diesem recht furiosen Auftakt geht es wieder zurück in den Schankraum, zum Apéro. Also zum Schlemmerbüffet, das wir eben schon beäugt hatten. „Wir machen das wie folgt: Ihr haltet immer einen kleinen Abstand zum Tisch, und ich laufe immer im Kreis, bringe Euch die Biere, Ihr verkostet sie, ratet, was es für ein Stil ist, und dann sammele ich sie wieder ein. Immer im Kreis!“, erklärt Davide.

Es beginnt ein Reigen, der uns regelrecht unter „Bierstress“ setzt. Blitzschnell kommen die Biere, werden schön vor uns positioniert, und kaum sind sie serviert, geht es los. „Na, was ist es für ein Stil?“ – „Wie schmeckt es?“ – „Was meint Ihr? Wieviel Alkohol?“ Dann die Auflösung, was es ist, und schon kommt das nächste Bier.

ein paar Kleinigkeiten zum Bier

Wir müssen uns ranhalten, um nicht die Übersicht zu verlieren. Ach ja, Speck, Käse, Wurst, fritierte Häppchen, Brot, Gebäck, Honig – all das muss ja auch noch verkostet werden. Vielleicht sogar mit dem jeweiligen Bier kombiniert werden. Fast schon steht uns der Schweiß auf der Stirn, und als Chronist habe ich alle Hände voll zu tun, die Übersicht über die getrunkenen Biere zu wahren:

  • 90 Nové – Pale Ale (Fass) 4,6%
  • Valona – Amber Ale (Fass) 5,5%
  • Innah – India Pale Ale (Flasche) 6,0%
  • Lisbeth – India Pale Ale (Fass) 7,5%
  • Mithra – Irish Red Ale (Flasche) 5,6%
  • Oroincenso – Birra Scura (Flasche) 8,0%
  • Kremlin – Imperial Russian Stout (Flasche) 9,0%
  • Fire Dance – Bourbon Oak Ale (Flasche) 6,6%
  • Dragrà – Seasonal Brown Ale (Flasche) 6,0%
  • 021.01 – Pastry Imperial Saison (Flasche) 7,5%
  • Marilyn – Seductive Imperial Pils (Flasche) 8,0%
  • Out of Sight – Raspberry Imperial Stout (Flasche) 9,0%

Uff! Was für ein Ritt durch die Bierwelt!

Einen kleinen Moment Pause gönnt uns das Team des Officina della Birra. Aber nur einen kleinen. Gerade so lang, wie die Jungs benötigen, draußen im Hof alles für die Sauerbier & Käse Verkostung aufzubauen.

Ein paar Minuten später treten wir auf den Hof. Die Sonne brennt, aber unter einem kleinen Zeltdach steht eine Zapfanlage, und dahinter grinsen uns unsere Gastgeber an. Langsam fährt Eric einen Gabelstapler aus der Garage. Er transportiert eine Europalette, und darauf vier bunt dekorierte Käseplatten! Was für eine überzeugende Inszenierung!

Den Auftakt dieser spannenden Verkostung macht ein Margherita Sour, ein Sauerbier, dessen Säure sehr ausgeprägt und direkt ist. Eigentlich gar nicht mein Fall. Aber in Kombination mit simplem Quark mit Zucker auf Vollkornbrot wird es plötzlich ausgewogen und mild. Na sowas!

Sauerbier & Käse Verkostung

Es folgt das „A Womp Bomp a Loom op a Womp Bam Boom”, das Tutti Frutti Sour. Nicht ganz so sauer, ein wenig runder, gebraut mit Mango und Erdbeeren. Dazu ein milder Bergkäse mit sehr groben Himalaya-Salz-Körnern. Hört sich merkwürdig an, passt aber ganz toll. Die Säure harmoniert mit dem Fett des Käses, das Salz, so merkwürdig es klingt, mit den Fruchtaromen. Davide strahlt, und Lucio wird nicht müde, den Namen des Biers geduldig zu wiederholen. Sind wohl nicht allzu viele Rock’n’Roll-Fans in unserer Gruppe, die sich an Little Richard und seinen Song Tutti Frutti erinnern …

Weiter geht’s mit einem Bohemian Sour Lager aus dem Jahr 2020, dem „Rhapsody“. Dazu ein fester, goudaartiger Käse mit einer dicken Kruste aus geschrotetem schwarzem Pfeffer. Passt ebenfalls hervorragend, ist allerdings nicht ganz so überraschend wie die erste Kombination und nicht ganz so begeisternd wie die zweite. Trotzdem prima!

Den Abschluss unserer Sauerbier & Käse Verkostung markiert das Americana, ein Strong Ale con Uva Americana affinata in Barrique di Rovere aus dem Jahr 2020. Eric und Davide erklären, dass das Etikett aus Holz sei. Eine hauchdünne Schicht aus Eichenholz sei abgehobelt worden, so dünn, dass sie sich wie feste Pappe bedrucken und auf die runde Flasche kleben lasse. Das kräftige und nur leicht saure Bier passt mit seinen festen Barrique-Aromen hervorragend zum deftigen Stilton Blauschimmelkäse. Beide, Bier und Käse, kommen robust und selbstbewusst daher und ergänzen sich so ganz vorzüglich.

Sensorisch geradezu entkräftet gehen wir wieder in die Halle hinein, die die Brauerei und den Bottleshop beherbergt. Aber es ist noch nicht Schluss für heute!

der Barley Wine als Krönung des Tages

Als Krönung des Tages, als Glanzlicht, gibt es noch einen Barley Wine, und zwar einen in Bourbon Barrels gereiften mit 15,0% Alkohol: „ODB Innkeeperʼs 99 – MMXIX 20Y“. Malzig, sanft, viskos gleitet er über die Zunge in den Rachen und rundet die heutige Brachialverkostung hervorragend ab. Ein gewisser Zeitdruck („Wir haben zwar den ganzen Nachmittag Zeit, aber das Programm ist gewaltig.“), der Ehrgeiz unserer Gastgeber und die Vielfalt der angebotenen Biere haben eine gewisse Unruhe gebracht; der Barley Wine erdet uns aber wieder und zwingt uns zu langsamem, bedächtigem Genuss.

Was für eine Brauerei-Besichtigung!

Nicht jeder, der hier vorbeikommt, ist gezwungen, sich so bedingungslos auf ein forderndes Biererlebnis einzulassen – man darf auch den anderen Eingang wählen und in der Birrificio di Bioggio die klassische Gasthausbrauereiatmosphäre wählen. Im großen Saal mit den riesigen Glasfronten sitzt man bequem (teils auch, als origineller Gag, auf Schaukeln, die an der Decke festgemacht sind) und genießt traditionelle Bierstile zu guter Küche. Wobei man auch hier die experimentellen Biere bestellen kann und darf.

Das Officina della Birra ist montags bis sonnabends tagsüber bis in den frühen Abend geöffnet; die Öffnungszeiten sind allerdings recht volatil. Am besten, man ruft vorher mal kurz an. Sonntags ist auf alle Fälle zu. Für Gruppen lassen sich spannende Arrangements zusammenstellen; das geht dann auch zu anderen als den regulären Öffnungszeiten. Mit den Öffis kommt man ganz gut hierher – vom Bahnhof mit der S-Bahn-Linie S-60 sind es keine fünf Minuten zu Fuß.

Bilder

Officina della Birra
Via Cademario 2
6934 Bioggio
Schweiz

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