Dieser unendlich lange Sommer mit so unendlich vielen sonnigen Wochenenden. Gleichzeitig viel Arbeit und wenig Möglichkeiten, Urlaub zu machen, abzuschalten und das herrliche Wetter zu genießen. Um so wichtiger werden dann die kleinen Momente. Zum Beispiel am 8. September 2018 – eine längere Reise mit dem Auto, während der irgendwann auf der Autobahn der Zeittpunkt kommt, an dem die Einsicht reift: Es reicht für heute, wir suchen uns ein Hotel.
Wir landen in Erlangen. Schnell ist das Gepäck auf’s Zimmer gebracht. Ein kurzer Blick auf das schlaue Telefon: Die Kitzmann Bräu ist nur fünf Minuten von hier.
Falsch: Es sind sogar nur vier Minuten. Vielleicht sind wir aufgrund unseres Durstes aber auch ungewöhnlich schnell gegangen.
Da liegt sie vor uns, die Kitzmann Bräu. 1712 gegründet, vor etwas mehr als 300 Jahren. Seit 1833 im Besitz der Familie Kitzmann – Johann Lorenz Kitzmann hat sie seinerzeit gekauft. Was für eine lange Tradition. Es ist eine Regionalbrauerei. Nicht groß genug, um im Preiskampf in den Supermärkten mitzuhalten, nicht klein genug, um das vorbehaltlose Vertrauen und den Rückhalt der lokalen Einwohner zu gewinnen, und so gehört sie zu den vielen, die um ihr Überleben kämpfen.
Nun, dann wollen wir heute doch einmal dazu beitragen, diesen Überlebenskampf zu unterstützen. Wir gehen einmal um das Gebäude herum, bis wir auf der Rückseite das Kitzmann Bräu-Kontor entdecken, also den Getränkemarkt der Brauerei, und im gleichen schönen alten Sandsteingebäude die Kitzmann BräuSchänke, einen wohnlich und rustikal eingerichteten Gasthof, in dem es sich sicherlich gut essen und trinken lässt. Aber drinnen ist es verwaist, niemand sitzt in der Schankstube und erfreut sich am bayerisch-bürgerlichen Dekor.
Nun, der Grund ist klar: Schon seit Wochen sitzt der Biergenießer lieber draußen im Biergarten und genießt sein Bier und seine Speisen an der frischen Luft. Wir natürlich auch. Die beigefarbenen Sonnenschirme spenden gnädigen Schatten, und auch wenn die ausladenden Bäume fehlen, ist es hier direkt vor dem Gebäude gemütlich. Hier werden wir wohl ein Weilchen sitzen bleiben, ist uns sofort klar.
Während meine holde Ehefrau noch vorsichtig mit einem alkoholfreien Weizen beginnt, riskiere ich trotz der Hitze schon gleich ein „richtiges“ Bier, und zwar das Bayrisch Märzen. Wunderbar kupferfarben und blank funkelt es im Glas, ein würziger und malziger Duft macht sich breit. Der erste Schluck bestätigt den guten Eindruck: Ein kräftiges und aromatisches Bier, aber nicht so vollmundig, dass es sättigend wirkt, sondern gerade so, dass gerne noch ein zweites oder gar ein drittes Glas schmecken würde. Fein!
Bevor sich das erste Bier des Tages im nüchternen Magen aber mit seinen 5,7% Alkohol zu sehr auswirken kann, bitten wir die nette Kellnerin doch um die Speisekarte. „Es gibt inzwischen wieder Karpfen“, empfiehlt sie uns, und da ist für mich die Bestellung klar. Ab und an muss man sich das mal gönnen. Karpfen also.
„Aber was ist das denn hier?“, möchte ich von der jungen Dame noch wissen und deute auf die nächste Zeile in der Speisekarte. „Ingresch. Das habe ich noch nie gehört und finde es noch nicht einmal bei Onkel Google. Ist das irgendeine regionale Spezialität?“ Für einen Moment scheint die Bedienung zu erröten und grinst. „Hm, Ingresch, also das sind…“, sie zögert kurz, „… die Geschlechtsorgane vom Karpfen!“
„Aber die sind viel leckerer als sich das jetzt so anhört“, fügt sie schnell noch hinzu. „Ich selbst esse sie sehr gern!“
Da es auch eine kleine Probierportion Ingresch gibt, bestelle ich diese neugierig dazu und lasse mich überraschen. Es dauert nicht lange, bis das Essen kommt, und gleichzeitig auch mein nächstes Bier, das Dunkle Erlanger. 5,4% Alkohol und überraschenderweise nur wenig dunkler als das Märzen. Ich schaue die Kellnerin fragend an: „Das ist das Dunkle?“ – „Oh, ja“, beeilt sie sich, zu versichern. „Unser Dunkles ist eher so bernsteinfarben, nicht schwarz.“ Aber es ist süffig. Ebenfalls schön malzig und mild. Kein schlechter Begleiter zum Karpfen und seinen Geschlechtsorganen. Eine schöne Kombination, aber wieder einmal bin ich auf die fränkische Portionsgröße hereingefallen. Der Karpfen allein wäre schon schwer zu bewältigen gewesen, und die Probierportion Ingresch („Nur mal zum Kosten“) entpuppt sich ebenfalls als Menge, die andernorts als großzügiger Hauptgang durchgegangen wäre. Die dicke und knusprige Panade tut das Ihrige, und nach Dreivierteln der Menge gebe ich entkräftet auf.
Das Ingresch ist aromatischer, weicher, aber auch noch gehaltvoller als der Rest des Karpfenfleischs. Eine feine Delikatesse, aber zu mächtig, um davon große Mengen zu essen. Selbst der Versuch, mit dem süffigen Dunklen Erlanger noch fleißig nachzuspülen hilft nicht – schweren Herzens muss ich ein paar ungegessene Reste zurückgehen lassen. „Hat’s nicht geschmeckt?“, fragt die Bedienung bedauernd, und ich muss ihr erklären, dass es ganz gewiss nicht am Geschmack gelegen hat, sondern an der für mich nicht zu bewältigenden Menge. Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein fast schon spöttisches Grinsen über ihr Gesicht. „Ach ja, die Preußen…“, scheint sie zu denken.
Ich streiche mir über den Bauch und bin mir einmal wieder bewusst: Würde ich hier im Fränkischen wohnen, mir wüchse wohl auch bald eine kräftige Wampe. Angesichts des guten Essens und des süffigen fränkischen Biers wäre es nur eine Frage der Zeit…
Rundum zufrieden trollen wir uns und nutzen die Zeit, Erlangen noch ein wenig weiter zu erkunden. Ein kurzer Blick über die Schulter zurück auf das in der tiefstehenden Sonne warm leuchtende Sandsteingebäude. Schön war’s!
Nachtrag 30. September 2018: Knapp drei Wochen ist unser Besuch beim Kitzmann her, als in den regionalen Zeitungen die Bombe platzt. Nach mehr als 300 Jahren stellt die Kitzmann Bräu von heute auf morgen den Braubetrieb ein. Bekanntgegeben am 28. September, wirksam zum 30. September 2018. Selbst die Miesepeter, die immer schon über das angeblich untrinkbar schlechte Bier gewettert haben – der Prophet gilt ja im eigenen Lande am wenigsten – sind völlig überrascht, und die, die behaupten, es schon immer gewusst zu haben, sagen die Unwahrheit. Erlangen ist erschüttert.
Das Kitzmann Bräu-Kontor und die Kitzmann BräuSchänke bleiben in Betrieb, und die Biermarke Kitzmann soll auch nicht vom Markt verschwinden, sondern wird von der Kulmbacher Brauerei übernommen, auf deren Sudwerk das Kitzmann-Bier in Zukunft hergestellt wird.
Ein schwerer Schlag für die Mitarbeiter der Brauerei und traurig für den Bierliebhaber. Die Kitzmann Bräu ist Geschichte.
Die Kitzmann BräuSchänke ist täglich ab 11:00 Uhr durchgehend bis in den späten Abend geöffnet; kein Ruhetag. Sie liegt fünf Minuten zu Fuß ostwärts vom Bahnhof Erlangen, an dem vom Fernzug bis zur S-Bahn so ziemlich alles hält.
Kitzmann Bräu GmbH & Co. KG
Südliche Stadtmauerstraße 25
91054 Erlangen
Bayern
Deutschland
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