Senatsbockanstich 2024
Hamburg
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Die alte Senatsbocktradition ist tot, aber die neue lebt!

Der Senatsbockanstich wird nun schon seit Jahrzehnten nicht mehr von den Hamburger Senatoren in Frack und Zylinder im Rahmen einer Altherren-Veranstaltung zelebriert – stattdessen ist er seit seiner Wiederauflage 2015 zu einer fröhlichen, unkomplizierten und standes- und geschlechterübergreifenden Veranstaltung geworden. Nur zwei Dinge sind geblieben: Das Bockbier steht im Mittelpunkt, und allüberall sieht man schwarze (teilweise auch modisch bunte) Zylinder!

Um 17:45 Uhr ist die Schlange vor dem Parlament, dem im Keller des Hamburger Rathauses situierten Restaurants, schon mehr als hundert Meter lang. Vorbeiflanierende Spaziergänger mutmaßen schon stirnrunzelnd, ob hier eine Wohnungsbesichtigung stattfände – anders könnten sie sich die geduldige Warterei in Kälte und Dunkelheit nicht erklären. Aber auf das Stichwort Senatsbockanstich hin hellen sich die Mienen auf und Verständnis macht sich breit.

Die Uhr am Rathausturm schlägt sechs Mal, und dennoch dauert es noch quälende weitere zehn Minuten, bis sich die Türen des Parlaments endlich öffnen. Dann geht es aber ganz schnell. Die Tickets werden gescannt, man bekommt einen Flyer und ein Probierglas in die Hand gedrückt, schnell die Mäntel in die Garderobe, und ab in den großen Saal, wo schon das Holzfass steht und auf den Anstich wartet.

Acht Brauereien haben ihre Stände in den Kellern des Parlaments aufgebaut, und jede bietet ihre höchst individuelle Interpretation des Senatsbocks an – ob klassisch, ob auf Eichenholz gelagert, ob mit Kokoschips verfeinert oder ob mit Pfefferminztee gestopft, jeder Bock schmeckt etwas anders. Neben diesen acht speziellen Sorten gibt es dann auch noch einen neunten Senatsbock, einen Gemeinschaftssud. Klassisch gebraut, ohne Fisimatenten, und vor allem: In so großem Maßstab gebraut, dass er auch in den Ladenverkauf geht und in den Tagen und Wochen nach dem Anstich in den Getränkemärkten Hamburgs und Umgebung zu finden ist.

Neun starke Biere, dazu deftige Verpflegung in Form von Fischbrötchen, Currywurst oder Chili sine Carne. Man bekommt für das Eintrittsgeld eine solide Gegenleistung, und der Abend verspricht, feuchtfröhlich zu werden.

Und die kräftigen Trinker, denen neun Gläser Bockbier noch nicht genügen, die haben sogar noch das Vergnügen, von jeder Brauerei ein weiteres Bier probieren zu können!

Ein solches Bier hole ich mir auch, um die Wartezeit bis zum Anstich zu überbrücken – das Bambule Pils der ÜberQuell-Brauerei ist vorzüglich geeignet, den ersten Durst zu stillen. Knackig herb und hopfig ist es, angenehm frisch und überaus durchtrinkbar.

Es wird sieben Uhr, jetzt sollte der Anstich stattfinden. Aber … Es bleibt ruhig auf der Bühne. Die anwesenden Brauer haben sich in der Nähe versammelt, aber nichts passiert. Ratlose Blicke im Publikum und die Überlegung: Wer wird denn heute das Fass überhaupt anstechen?

vor lauter Handy-Displays ist der Erste Bürgermeister fast nicht zu sehen

Einige Minuten später die Auflösung: Männer mit schwarzen Anzügen und Knopf im Ohr tauchen auf, und direkt dahinter der Erste Bürgermeister der Stadt Hamburg, Peter Tschentscher, höchst persönlich.

Jetzt geht alles ganz schnell. Ein paar kurze Reden, ein paar schnelle Schläge mit dem Schlegel auf den Zapfhahn, und rasch ist das riesige Bierglas mit Senatsbock gefüllt. „Für den menschlichen Verzehr geeignet“, befindet Tschentscher, und das Publikum erwidert, der alten Tradition entsprechend: „Die Krüge hoch, die Kehlen weit, es ist wieder Senatsbock-Zeit!“

Simultan öffnen die acht Brauereien ihre jeweils zweiten Zapfhähne, die Senatsböcke beginnen zu fließen und die Stimmung im Saal steigt in Minutenschnelle.

Ich sehe mich um. Welche Brauerei ist mir am nächsten, mit welchem Bock fange ich an?

Mein Blick fällt auf die Ratsherrn-Brauerei. Ein Bock mit 7,5% Alkohol, auf französischem und amerikanischem Eichenholz gelagert und mit herrlichen Aromen von Mokka und Vanille sowie holzigem Charakter. Ein vorzüglicher Einstieg, ein echtes Fünf-Sterne-Bier, und – wie sich dann im weiteren Verlauf des Abends herausstellt – der aus meiner ganz persönlichen Bewertung heraus beste Senatsbock dieser Saison! Was für ein Auftakt!

Nicht ganz so beeindruckend, weil ein bisschen unausgewogen und nicht so harmonisch, folgt der Senatsbock „Tropical Double Bock“ aus dem Hause ÜberQuell. Die verwendeten Karamell- und Röstmalze, insbesondere letzteres, liefern sich einen Wettstreit mit der ebenfalls hinzugefügten Madagascar Vanille und den Kokoschips. Wer diesem Spannungsbogen etwas abgewinnen kann, wird begeistert sein, mich persönlich hat dieser Kontrast nicht ganz so sehr angesprochen, so dass das 6,9%ige Bier zwar mit Genuss getrunken, aber dennoch nur im soliden Alltagslevel verortet wird.

Noch stärker zeigt sich aus meiner Sicht das Spannungsfeld im 7,9%igen Senatsbock der Kehrwieder Kreativbrauerei. Zartbittere Kakaoaromen und vielviel Kokos passen nicht wirklich zusammen, und das vom Brauer beschworene Schokoriegelfeeling pur will sich bei mir nicht recht einstellen. Ich glaube, ich habe schon meinen Kandidaten für den am wenigsten überzeugenden Senatsbock des Jahres 2024.

Eher rund und ausgewogen, dabei gleichzeitig aber sehr zurückhaltend, kommt der Senatsbock vom Wildwuchs Brauwerk daher – der einzige Vertreter in Bio-Qualität. Die 6,9% Alkohol sind ebenso zurückhaltend wie die dezenten Aromen von Kaffee und Bitterschokolade. Ein schönes, fast schon durchtrinkbares Exemplar mit soliden Alltagsqualitäten, lautet mein persönliches Urteil.

mein ganz persönliches Fass-Erlebnis

Die Musik wird lauter, die Stimmung steigt, und weiter geht’s mit dem Senatsbock vom Blockbräu. 7,3% Alkohol bringt er mit und erweist sich als grundsolider, klassischer dunkler Bock. Runde Malzaromen, ein weicher Körper, nur zurückhaltende Röst-, Schokoladen- und Kaffeearomen und keinerlei Fisimatenten. Ein Klassiker – da sind wir uns alle einig.

Um den folgenden Bock rankt sich eine Geschichte, die ich aber während des Senatsbockanstichs nicht mehr habe verifizieren können: Angeblich soll das Sudwerk der Gröninger Privatbrauerei einen Defekt haben, so dass der diesjährige Senatsbock nur in verschwindend geringer Menge auf einer kleinen Hobbyanlage entstanden sein soll. Ob das wirklich stimmt? Keine Ahnung. Für heute Abend war jedenfalls genug da. 7,8% Alkohol und eine ganz dezent rauchige Note machen diesen Bock zu etwas Individuellem.

Schon traditionsgemäß etwas verrückter als alle anderen zeigt sich der Senatsbock der Astra St. Pauli Brauerei. Astra Eight nennt er sich, und wer dabei an After Eight denkt, liegt richtig. Mit Kakao-Nibs und -Pulver gebraut und mit Pfefferminztee gestopft, erinnert der 6,8%ige Bock von der Reeperbahn tatsächlich sensorisch an After Eight. Schoko und Minze lassen grüßen, und obwohl es sich fast schon gruselig liest – schmecken tut es dann gar nicht so schlecht! Wer hätte das gedacht!

Die letzte besondere Kreation des heutigen Abends kommt von der Landgang-Brauerei. Wie schon im Vorjahr ist es eine besondere Interpretation, nämlich ein Cascadian Dark Ale. Röstig und dunkel, aber mit zitrusfruchtigem amerikanischem Aromahopfen gebraut. Ein Bier mit Kontrasten, mit einem ziemlichen Spannungsverhältnis zwischen Nase und Gaumen. Mit 8,0% Alkohol der stärkste Senatsbock dieser Saison.

Irgendwo in den Katakomben des Rathauses soll es heute Abend ja auch noch den Gemeinschaftssud geben, also den Senatsbock, der nicht nur in Kleinstauflage in Liebhaberhände geraten, sondern im breiten Verkauf erhältlich sein soll. Groß beworben wird er nicht, stelle ich fest, und auch über Herkunft (Landgang-Brauerei) und Alkoholgehalt (7,7%) muss ich mich erst am Folgetag im Internet schlau machen. Aber: Er schmeckt, stelle ich nach einem großen und kräftigen Schluck fest. Solide, klassische Qualität. Rund und malzig, vollmundig und ein wenig herb, keine Sonderlocken, keine Experimente. Ein dunkler Bock für diejenigen, die dunklen Bock mögen.

neun Senatsböcke

Ein sehr angenehmer Abschluss eines schönen Abends. Gute Laune allenthalben, hervorragende Stimmung und keine besoffenen Aggressionen – stattdessen viel Spaß und fröhliches Miteinander. Sicherlich auch der guten Organisation und dem dezenten Auftreten des Sicherheitspersonals zu verdanken.

Gerne wieder im nächsten Jahr – das letzte Wochenende im Januar ist schon im Kalender markiert!

Bildergalerie

Senatsbockanstich 2024
Restaurant Parlament Hamburg
Rathausmarkt 1
20 095 Hamburg
Hamburg
Deutschland

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