Lasst uns die Tradition aufrechterhalten!
Ich habe die Sache mit der Absage vor einem Jahr schon einmal schreiben müssen: Vor vielen Jahrzehnten gab es die Tradition, einmal jährlich den von den Hamburger Brauereien gemeinsam eingebrauten Senatsbock durch die in Frack und Zylinder gekleideten Senatoren der Hansestadt in feierlichem Rahmen anstechen zu lassen. Was steif und förmlich begann, wurde innerhalb weniger Stunden zu einem ausgelassenen Spektakel, bei dem die hohen Herren Senatoren ebenso wie ihre illustren Gäste durchaus auch einmal die Contenance verloren …
Starkbieranstich also nicht nur auf dem Nockherberg, sondern auch im hohen Norden.
Aber so schön die Tradition auch war, sie ging irgendwann verloren. Der Zeitgeist ging über sie hinweg, man amüsierte sich anders. Schade.
Erst 2015 lebte diese Tradition wieder auf. Es waren zunächst fünf Brauereien, die gemeinsam einen Senatsbock einbrauten. Rasch wuchs die Zahl der Brauereien, und man kam überein, dass jede Brauerei auch ihre eigene Interpretation eines Senatsbocks brauen solle. Gemeinsam wurden die verschiedenen Fässer dann im Rahmen eines großen Fests angestochen.
Kurz vor der Seuche fand dieser Senatsbockanstich 2020 letztmalig live statt, 2021 wurde er von vornherein gar nicht geplant, und 2022 wurde zumindest versucht, die Veranstaltung stattfinden zu lassen. Aber … der Virus überraschte mit einer neuen Variante, und das schon vorbereitete Event wurde abgeblasen, alle Tickets rückerstattet.
Stattdessen: Eine hybride Veranstaltung. Ein kleiner Kern Glücklicher trinkt vor Ort in Hamburg, und viele Liebhaber trinken zuhause vor ihren Computerbildschirmen, „im Fernsehen“ also.
neun Hamburger Senatsböcke
Neun Brauereien sind es mittlerweile, die für 2022 einen Senatsbock hergestellt haben. Sechs davon in größeren Mengen und mit Flaschenabfüllung für eine deutschlandweite Distribution, drei davon eigentlich nur für den Eigenbedarf – ein paar Fässer nur. Christian Temme vom Braustättchen Am Fischmarkt hat die Initiative ergriffen, auch von diesen drei Brauereien einige Flaschen zu ergattern, und es ist ihm geglückt. Kleinstauflagen beziehungsweise sogar eine Eigenabfüllung im Braustättchen, wo Christian über einen kleinen Gegendruckabfüller verfügt. Eine Mordsarbeit, viel persönlicher Einsatz – aber es hat sich gelohnt: Vor mir stehen neun Flaschen Senatsbock von neun verschiedenen Brauereien, neben mir sitzt meine holde Ehefrau, und mir gegenüber stehen ein paar Snacks – süße wie salzige.
Pünktlich um 19:00 Uhr geht das Braustättchen auf Sendung und wir beginnen eine kurzweilige Verkostung. „Es ist ein Marathon, kein Sprint“, warnt uns Christian noch vor. Immerhin drei Liter Bier mit durchschnittlich über sieben Prozent Alkohol. Das muss man genießen, und zwar langsam und bewusst.
Zu jedem Bier entwickelt sich eine spannende Diskussion. Wir können abstimmen, wie gut es uns unter den Gesichtspunkten „Innovativkraft“, „Sexyness“ und „Geschmack“ gefällt, wir können fachsimpeln, herumalbern und genießen.
Und das tun wir! Vier sinnesfrohe Stunden lang. Souverän moderiert von Christian, mit einer Unmenge an Informationen, die von allen Teilnehmern beigesteuert werden, und auch mit spannenden Hintergrundinfos aus der Astra Brauerei St. Pauli, deren Brauer „merlin“ zugeschaltet ist und viel zu erzählen weiß.
Ein wunderbarer Abend.
Für all die, die nicht dabei sein konnten, hier einige Bilder, und natürlich ganz viele Verkostungsnotizen.
Verkostungsnotizen
„Alle Neune“
Blockbräu (Gemeinschaftssud Blockbräu, Gröninger und Joh. Albrecht) (7,0%)
Das Bier ist dunkelbraun mit einem kastanienroten Schimmer und leicht trüb. Es entwickelt nur recht wenig Schaum. Der Geruch ist malzig und hat eine ganz leicht nussige Komponente. Der Antrunk ist weich, rund und malzig fließt das Bier über die Zunge und entwickelt leichte Röst- und Karamellaromen. Im Abgang ist es überraschend trocken.
Astra Brauerei St. Pauli (7,4%)
Das Bier ist sehr dunkelbraun, fast schwarz. Es entsteht beim Einschenken ein üppiger und schöner, beigefarbener Schaum, der aber schnell zusammenfällt. Der Duft ist leicht säuerlich-fruchtig, mit feinen Mokka- und Kakaonoten. Es folgt ein frischer und säuerlicher, kirschiger Antrunk; auf der Zunge zeigt sich etwas Süße, aber auch eine spürbare Bittere. Die Kombination Sauerkirsche und Kakao erinnert ein bisschen an Mon Chérie. Der Abgang ist schön herb und trocken. Retronasal kommen die Sauerkirschen noch lange durch, und wir stellen fest: Dieses Bier passt perfekt zu einem Stück Zartbitterschokolade.
Gröninger Privatbrauerei (7,6%)
In der rotbraunen Farbe dieses Biers erkennen wir nur eine leichte Trübung. Der Schaum entwickelt sich sehr stark, fast aber schnell wieder zusammen. Der Geruch wirkt ein wenig dumpf und erdig – insbesondere unmittelbar nach dem vorherigen, säuerlich-fruchtigen Bier. Der Antrunk ist etwas breit. Auf der Zunge bleibt das Bier recht trocken, ebenso im Abgang. Es hinterlässt eine kernige Bittere und wirkt deutlich bitterer, als die 28 IBU in der Beschreibung hatten vermuten lassen.
Die Farbe dieses Biers ist dunkelbraun mit einem leichten Rotstich. Der Schaum ist schön kremig und auch recht lange haltbar, er ist leicht beigefarben. Der Duft ist kernig, malzaromatisch und weist leichte Dörrobst-Noten auf. Der Malzcharakter ist kräftig und vollmundig, ohne dabei zu süß zu sein. Das Malz ist sehr dominant, ohne mastig zu werden. Der Abgang ist fest und robust, die zurückhaltende Herbe bleibt gerade so lange hängen, dass Lust auf den nächsten Schluck entsteht.
Kehrwieder Kreativbrauerei (6,5%)
Das Bier ist dunkelbraun und leicht trüb. Der beigefarbene Schaum entwickelt sich nur recht sparsam. Wir riechen feine vanillige Noten, die kremig und weich wirken. Die Weichheit spiegelt sich auch im Antrunk wieder – samtweich sogar. Auf der Zunge bleibt das Bier recht seidig und es kommen retronasal Vanille- und Karamellnoten sehr deutlich raus. Eine schöne Malzsüße schmeichelt der Zunge und dem Gaumen und macht anschließend auch den Schluck zart und weich. Die Bittere hält sich sehr zurück und lässt dem Malz eindeutig den Vortritt. Ein recht komplexes Bier; für einen Doppelbock sehr ungewöhnlich.
Das Bier hat eine rubinrote Farbe und einen schönen und lange haltbaren, beigefarbenen Schaum. Der Geruch ist intensiv hopfig mit sehr herben, harzigen Noten, dahinter ein paar herbe Zitrusfrüchte. Der Antrunk und der erste Eindruck auf der Zunge sind astronomisch bitter. Es ist stilistisch eher ein (Vorsicht! Oxymoron!) Black IPA als ein Doppelbock. Knochentrocken, nahezu ohne Restsüße verhält sich das Bier im Mund. Nach dem Schluck bleibt eine kernige, zum Glück nicht kratzige Bittere sehr lang haften. Retronasal ist ebenfalls der Hopfen mit harzigen und nur im Hintergrund herb-fruchtigen Noten das dominierende Element.
Die Farbe ist dunkelbraun; es bildet sich nur sehr wenig Schaum. Der Geruch ist unglaublich komplex – ein bisschen Vanille, etwas dunkle Früchte, kirschiger Rotwein. Der Antrunk ist weich, auf der Zunge kommen die weinigen Aromen (süßer Rotwein) noch deutlicher heraus, insbesondere retronasal. Der Abgang ist ein wenig alkoholisch, ohne jedoch spritig zu werden. Ein beeindruckendes, sehr komplexes Bier zum lange Hinterherschmecken und -schnuppern.
Dieses Bier wird seit 2016 immer wieder neu im Fass ausgebaut; als Cuvée enthält es immer die Reste des Vorjahres, also auch ein paar Tropfen aus dem allerersten Jahr. Wunderbar!
ÜberQuell Brauwerkstätten (7,7%)
Die Farbe ist dunkelbraun, es entwickelt sich nur wenig Schaum. Der Duft ist etwas herber, etwas rauer mit dezenten phenolischen Noten. Der Antrunk ist ebenfalls leicht phenolisch, mit Schokoladen- und Kakaonoten, die aber ein wenig kratzig daherkommen. Auf der Zunge ist das Bier recht komplex, aber es fügt sich nicht ausgewogen und harmonisch zusammen; seine leichte phenolische und adstringierende Sensorik spricht mich nicht an. So interessant und innovativ es ist, fehlt mir am Ende der Pfiff. Stilistisch ist es eher ein belgisches Dubbel, die Brauerei nennt es folgerichtig aufgrund dieser belgischen Noten „SenatsMonk“.
wildwuchs Brauwerk Hamburg (6,5%)
Das dunkelste Bier heute: Tiefschwarz. Es bildet relativ wenig Schaum. Der Geruch ist kernig-röstig und sehr intensiv. Der Antrunk ist röstig, rau, fast schon etwas kratzig – ein Eindruck, der sich auf der Zunge und im Rachen fortsetzt. Das Bier wirkt relativ bitter, in seiner Vielschichtigkeit ein bisschen unausgewogen. Der Abgang ist eher rau und adstringierend; die Herbe lang anhaltend.
vier Stunden – neun Biere
Senatsbock 2022 „Alle Neune“ (Hybridveranstaltung)
Christian Temme
Braustättchen Am Fischmarkt
Fischmarkt 17
22 767 Hamburg
Hamburg
Deutschland
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